Markus Vogt & Sebastian Kistler | Februar 2023

Eine neue Ära in der Energiepolitik

Die Erdgaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2, einst Prestige-Projekte, liegen heute mit gewaltigen Lecks brach in der Ostsee. Lange galt der Umstieg von Öl und Kohle auf russisches Gas als Fortschritt in der deutschen Energiewende, und der Slogan „Wandel durch Handel“ stand für den Ausbau der russisch-deutschen Beziehungen. Unter dem Eindruck der russischen Invasion in die Ukraine erscheint die Entscheidung für die Ostseepipelines als äußerst fragwürdig und die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte muss in Hinsicht auf ihre Energiesicherheit retrospektiv als besonders naiv betrachtet werden. Der russische Präsident Putin scheint die Nutzung der Ressourcenpolitik als Waffe im hybriden Krieg gegen den Westen von langer Hand geplant zu haben. Wie konnte es geschehen, dass wir uns beim Energieimport zu 45 Prozent von Russland abhängig gemacht haben, beim Erdgas sogar zu 55 Prozent, dass der größte Gasspeicher an Gazprom und die größte deutsche Öl-Raffinerie an den russischen Ölkonzern Rosneft verkauft wurden? Wie konnte es sein, dass keine Alarmglocken läuteten, als der Gazprom-Gasspeicher im Sommer vor Kriegsbeginn anders als sonst nicht gefüllt wurde? Als größter Energiekunde Russlands wurde Deutschland zu einem der größten Kriegsfinanzierer.

Auf gewisse Weise stehen die zerborstenen Pipelines in der Ostsee auch für den aktuellen Stand der Energiewende. Hehre Absichten und politische Versprechen, Deutschland weltweit zu einem Vorreiter in Sachen Energiewende zu machen, müssen nach und nach der Akzeptanz einer Realität weichen, in welcher das Zeitalter der fossilen Energien noch lange nicht zu Ende scheint. Lützerath ist ein Symbol dafür. Ausgerechnet der grüne Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, musste unter anderem mit Katar, das aktuell aufgrund von Verletzungen der Menschenrechte im Kontext der WM 2022 in der Kritik steht, und vielen anderen Staaten über den Ausbau von Flüssiggaslieferungen verhandeln. Das zuletzt im November 2022 auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Ägypten bekräftigte Versprechen der 197 Vertragsnationen, die Klimaerwärmung auf einen Wert zwischen 1,5 und 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, wirkt vor dem Hintergrund der aktuellen weltweiten sicherheitspolitischen Situation äußerst ambitioniert.

Energie, eine Frage der Ordnungsethik

Der Umgang mit Energie prägt die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist deshalb nicht nur eine technisch-ökonomische, sondern ebenso eine politische und ordnungsethische Frage. Energiepolitik ist das entscheidende Bewährungsfeld für konkreten Klimaschutz. Mit dem heutigen Stand der Technik für Erneuerbare Energien wäre viel mehr möglich. Jedoch blockieren oder verlangsamen der aktuelle Krieg Russlands, wirtschaftliche Pfadabhängigkeiten, die Konkurrenz um Spitzenpositionen in der Weltwirtschaft sowie eine nachholende Entwicklung vieler Länder des Südens nach dem emissionsreichen Vorbild der Industrieländer die Energiewende.

In der ethisch-politischen Diskussion um die Energiefrage sind vor allem drei Begründungszugänge und Ziele maßgeblich: 1. Klima- und Umweltschutz; 2. langfristige Versorgungssicherheit und Vermeidung politischer Abhängigkeiten; 3. Wettbewerbs- und Kostenvorteile. Als Zieldreieck einer nachhaltigen Energiepolitik kann Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit, und Wirtschaftlichkeit definiert werden. Zwischen diesen drei Gesichtspunkten besteht trotz aller Überschneidungen eine gegenwärtig kaum auflösbare Spannung, die zu unterschiedlichen Prioritäten führt.

Der Wandel der Energieversorgung wird dadurch erschwert, dass ein isolierter Austausch einzelner Elemente der fossilen Energiestruktur durch erneuerbare Energien oftmals unzureichend ist. Denn diese brauchen andere Strukturen, um ihre Vorteile zu entfalten. Die erforderlichen grundlegenden Systemänderungen im Energiesektor lassen sich nicht von heute auf morgen realisieren und setzen deshalb vorausschauende und weitreichende politische Beschlüsse voraus. Es lassen sich vor allem drei Zielkonflikte der Energiewende identifizieren: Erstens muss auf die Herausforderungen eines Verlustes an Systemstabilität und eine geringere Versorgungssicherheit reagiert werden. Denn während Kraftwerke, die mit fossilen Energiequellen betrieben werden, weitestgehend unabhängig von äußeren Einflüssen eine gleichbleibende oder an Nachfrageschwankungen angepasste Strommenge in die Netze einspeisen können, ist die Einspeisemenge zum Beispiel von Strom aus Photovoltaikanlagen an die Sonneneinstrahlung gebunden. Zweitens stoßen für die Energiewende notwendige Umbauten der Energieinfrastruktur oft auf soziale Widerstände. So erschweren Anwohnerproteste nicht selten den Bau von Energieeinrichtungen in deren unmittelbarer Wohnnähe. Der politische Druck durch solche Proteste beeinflusst die Entscheidungen auf Ebene der Bundesländer. Zum Beispiel hat sich der damalige Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer 2014 aufgrund anhaltender Bürgerproteste gegen neue Überlandleitungen einer Nord-Süd-Stromtrasse, die vor allem der Übertragung erneuerbarer Energien dienen sollte, ausgesprochen. Als dritter Zielkonflikt sind Risiken im digitalen Energiesystem zu nennen. Sogenannte Smart Grids dienen dazu, einen Ausgleich von Stromangebot und -nachfrage zu schaffen, mit Stromschwankungen verbundene erneuerbare Energien ins Stromnetz zu integrieren sowie Störungen zu erkennen und zu beseitigen. Sie erfassen über digitale Sensoren Betriebsdaten von Energieerzeugungsanlagen, Energiespeichern und Verbrauchern und vernetzen diese über moderne Kommunikationstechniken. Dabei werden enorme Datenmengen („Big Data“) gesammelt und ausgetauscht. Dies führt zu vielfältigen Problemen der Datensicherheit und des Datenschutzes. Eine weitrechende Energiewende erfordert also grundlegende Veränderungen der Art, wie wir Energie erzeugen, verteilen und nutzen. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die ordnungspolitische Steuerung benötigt.[1]

Diese politische Dimension der Energieversorgung ergibt sich auch daraus, dass sich Anpassungen aus mehreren Gründen nicht hinreichend betriebswirtschaftlich über Marktsignale abbilden und steuern lassen: Innovationen brauchen oft sehr umfangreiche und langfristige Investitionen, die einzelne Unternehmen nur begrenzt tragen können. Zudem sind die Energiepreise aufgrund ihrer Abhängigkeit von politischen Entscheidungen und Machtkonflikten volatil, also sprunghaft, was Investitionen höchst riskant macht und ihre Sicherheit und Kontinuität erheblich beeinträchtigen kann.[2] Versorgungssicherheit und Innovation im Energiesektor brauchen daher politische Rahmenvorgaben. Die Energiewende wird sich nicht allein aus der wirtschaftlichen Dynamik heraus durchsetzen.

Technologieführerschaft im Energiemarkt bedarf also der Ermöglichung und Flankierung durch politische Willensbildung. Sie muss Unsicherheiten und „Durststrecken“ überwinden, kann aber langfristig zum Entscheidungsfaktor für Wettbewerbsvorteile und Exportchancen werden. Zugleich ist innovative Energietechnik ein Beitrag zur Sicherheits- und Friedenspolitik, da sie die Abhängigkeit von Gas und Erdöl exportierenden Ländern verringert. Um Strategien von Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit im Energiebereich effektiv zu verknüpfen, genügt es nicht, auf den Fortschritt internationaler Abkommen zu warten. Nach der ernüchternden Bilanz der bisherigen Klimaschutzkonferenzen und ihrer mangelnden Umsetzung muss man nach neuen Impulsgebern Ausschau halten. Die Dynamik eines Strukturwandels könnte von einer konsistenten Energiepolitik der Nationalstaaten ausgehen. Sie ist aufgrund ihrer hohen Komplexität jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auf ein Zusammenspiel zwischen Politik, Unternehmen, Forschung und Verbrauchern angewiesen ist.

Verzögerung des fossilen Endspiels

Die Vorräte fossiler Energieträger auf der Erde sind endlich. Die Vorstellung eines Ölfördermaximums, englisch auch peak oil genannt, beruht auf einer Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten Theorie des Geologen M. King Hubbert, nach welcher die Förderung von Erdöl lange vor der endgültigen Erschöpfung des Rohstoffes ein historisches Maximum erreicht und dann aufgrund von zunehmenden Preissteigerungen für das knappe Gut irreversibel zurückgeht. Meist wird mit dem peak oil der Zeitpunkt verbunden, bei dem die Hälfte des weltweit verfügbaren Erdöls gefördert wurde. Die Theorie wurde auch für Kohle und Gas adaptiert. Erdöl jedoch ist nach Angaben der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) der Rohstoff, dessen Erschöpfung am weitesten fortgeschritten ist. Zumindest für konventionell gefördertes Erdöl, so wird angenommen, sei der peak oil bereits überschritten.[3]

Nicht selten wurde mit der peak oil-Theorie die Hoffnung verbunden, dass sich das Problem der weltweit hohen Treibhausgasemissionen aufgrund der Verknappung der verfügbaren Mengen an Kohle, Gas und Öl quasi wie von selbst erledigt. Diese Hoffnung scheint aber aus heutigem Blick unbegründet. Dies hat mehrere Gründe: Zunächst ist die Menge der Vorräte an fossilen Energierohstoffen nicht vollständig bekannt, sondern beruht auf Schätzungen. Immer wieder werden neue Vorkommen entdeckt. Des Weiteren unterscheiden sich die Vorkommen in ihrer Qualität und ihrer Zugänglichkeit. Vorkommen, die zum jeweils verfügbaren Stand der Technik zu wirtschaftlich gewinnbringenden Bedingungen gewonnen werden können, werden als Reserven bezeichnet. Mit dem Begriff Ressourcen werden bekannte oder geologisch plausibel vermutete Rohstoffvorkommen bezeichnet, deren Förderung noch nicht als wirtschaftlich gilt. Sowohl durch technische Innovationen der Fördertechnologien als auch durch steigende Preise für Öl, Kohle und Gas verschiebt sich die Grenze der wirtschaftlichen Rentabilität zur Erschließung der Vorkommen. Ressourcen werden in solchen Fällen zu Reserven. Das heißt, je höher die Preise für die fossilen Rohstoffe werden, desto mehr lohnt sich der Einsatz von teureren Fördertechnologien und die Erschließung von Ressourcen, deren Förderung bisher als nicht rentabel galt.

Zudem kann zwischen konventionellen und nicht-konventionellen Rohstoffvorkommen unterschieden werden. Konventionelle Rohstoffvorkommen sind häufig in Sandgestein vorhanden und sind deshalb vergleichsweise leicht zu erschließen. Zu den nicht-konventionellen Gas- oder Ölvorkommen zählen vor allem solche, die in Schiefer-, Ton-, Mergel- und Kohleflözgestein gebunden sind. Mit konventionellen Fördertechnologien konnten diese nicht erschlossen werden. Dies änderte sich durch Weiterentwicklungen und den großflächigen Einsatz der Fördertechnologie des Hydraulic Fracturing, kurz Fracking. Dabei wird ein Gemisch aus Wasser, Sand und Chemikalien unter hohem Druck in tiefliegendes Gestein gepresst, sodass feine Risse entstehen, durch die das dort in kleinen Blasen vorkommende Erdgas oder Erdöl gewonnen werden kann. Die Technologie des Frackings aus konventionellen Rohstoffvorkommen gibt es schon länger und wird in Deutschland, vor allem in Niedersachsen, bereits seit den 1960er Jahren angewendet. Vergleichsweise neu ist das Fracking aus unkonventionellen Rohstoffvorkommen. Beim Fracking von Gas, das zum Beispiel in Schiefergestein gebunden ist, sind mehr Frack-Vorgänge nötig und es werden mehr und unterschiedliche Chemikalien benötigt. Oft findet unkonventionelles Fracking auch näher an der Erdoberfläche als das konventionelle Fracking statt, also näher am Grundwasser.

Die Technik zur unkonventionellen Förderung von Öl und Gas aus schwer zugänglichen Lagerstätten lohnt sich aus den oben geschilderten Zusammenhängen erst seit einigen Jahren. Vielen Nationen ermöglicht das Fracking einen Ausweg aus drohenden Engpässen der Energieversorgung. Fracking hat die energiepolitische Weltkarte weitreichend verändert. Seit 2011 schafften es die einst Öl und Gas importierenden USA durch den groß angelegten Einsatz von Fracking, sich zunehmend von der Öl-Politik der OPEC unabhängig zu machen, sich mit Öl und Gas zu großen Teilen selbst zu versorgen und sich sogar als Exporteur von Öl und Gas auf dem Weltmarkt zu etablieren. Der Export von Gas aus den USA wird durch die Umwandlung in Liquefied Natural Gas (LNG) ermöglicht. Dabei wird das Erdgas auf bis zu ‑164°C abgekühlt und auf ein bis zu sechshundertfach kleineres Volumen komprimiert. Dadurch wird das Gas in einen flüssigen Aggregatszustand versetzt, benötigt weniger Volumen und kann über LNG-Terminals auf LNG-Tankschiffe verladen werden. Die USA möchten ihr zu LNG umgewandeltes Fracking-Gas vor allem an ihre Verbündeten in Europa, Asien und anderen Regionen verkaufen. Unter anderem wurden zu diesem Zweck in den vergangenen Jahren LNG-Terminals in Litauen, Polen und Finnland gebaut. Die meisten dieser LNG-Terminals waren aber bis zum Beginn der russischen Invasion in die Ukraine nicht besonders hoch ausgelastet, weil russisches Gas meist billiger war als das US-Gas. Dennoch hat das zusätzlich auf den Weltmarkt gebrachte US-Öl und Gas zu einem Preisverfall für diese fossilen Ressourcen geführt. Insbesondere Saudi-Arabien hat in den Jahren 2011 bis 2014 durch die Anhebung seiner Ölproduktion und einen damit einhergehenden weiteren Preisverfall versucht, auf die neue Konkurrenzsituation am Weltmarkt zu reagieren.[4] Für die Energiewende waren die größeren am Weltmarkt verfügbaren Mengen an billigem Öl und Gas kontraproduktiv. Die Erhöhung der Fördermengen und der Preisverfall haben am Markt nicht solche Preissignale gesetzt, die einen Umstieg auf erneuerbaren Energien begünstigt hätten. Die Marktsignale im vergangenen Jahrzehnt haben zudem darüber hinweggetäuscht, dass Öl und Gas trotz neuer Fördertechnologien knappe Güter bleiben. Umgangssprachlich könnte also gesagt werden, dass diese Entwicklungen das fossile Endspiel nur verzögert haben.

Zudem ist das Fracking aus unkonventionellen Rohstoffvorkommen mit erheblichen Umweltbelastungen verbunden. Es wird befürchtet, dass die teilweise hochtoxischen Chemikalien, darunter krebserregende Stoffe wie Formaldehyd und Naphthalin, ins Grundwasser gelangen. Das verschmutzte Abwasser – der sogenannte Flowback – könnte, wenn der Druck nach Ausbeutung der Quelle reduziert wird, unkontrolliert an die Erdoberfläche gespült werden. Zusätzlich ist mit Leckagen zu rechnen, durch die das hochflüchtige klimabelastende Methan entweicht. Aufgrund solcher Umweltbedenken hat sich Deutschland weitestgehend gegen den Einsatz von Fracking entschieden. Ein am 11. Februar 2017 in Kraft getretenes Gesetz verbietet unkonventionelles Fracking zu wirtschaftlichen Zwecken. Konventionelle Fracking-Vorhaben können nach der aktuellen gesetzlichen Grundlage nur noch nach einer Umweltverträglichkeitsprüfung unter Beteiligung der Öffentlichkeit durchgeführt werden.

Um den deutschen Bedarf an Gas trotz der weggefallenen Importe aus Russland zu gewährleisten, hat Deutschland im Eilverfahren den Bau von vier LNG-Terminals in Auftrag gegeben. Das erste Terminal in Wilhelmshaven wurde am 17. Dezember 2022 von Bundeskanzler Scholz mit den Worten „Das ist jetzt das neue Deutschland-Tempo, mit dem wir Infrastruktur voranbringen“[5] eröffnet. So stolz die Ampel-Koalition über den Ausbau der deutschen LNG-Importkapazitäten auch ist und so notwendig sie für die deutsche Energiesicherheit auch sein mögen, sie haben zunächst nichts mit der Energiewende zu tun. Vielmehr akzeptiert Deutschland damit, dass Gas importiert wird, das zu großen Teilen über unkonventionelles Fracking gewonnen wird, also einem Verfahren, das Deutschland selbst aus Umweltschutzgründen im eigenen Land verboten hat. Vor diesem Hintergrund kann der Umstieg von russischem Gas zu LNG-Gas aus ethischer Sicht maximal als vorübergehende Notlösung betrachtet werden, die möglichst schnell durch erneuerbare Energien abgelöst werden sollte.

„Atomkraft, nein danke!“ – ein grüner Slogan von gestern?

In Deutschland wird seit mehr als 45 Jahren so leidenschaftlich wie in keinem anderen Land um die ethische Bewertung der Energie gestritten. Unter dem Eindruck der Fukushima-Katastrophe vom März 2011 hat die Bundesregierung den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Demnach sollten alle deutschen Atomkraftwerke bis zum 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden. Zugleich hat sich die Bundesregierung international zu einer Vorreiterrolle im Klimaschutz verpflichtet. Deutschland steht vor der Herkules-Aufgabe, gleichzeitig den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie sowie eine Reduktion der fossilen Energieversorgung auf unter 20 % bis zum Jahre 2050 herbeizuführen. Der radikale Wandel der Energiepolitik wurde ausdrücklich ethisch begründet. International wird das deutsche Experiment der Energiewende mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis begleitet.

Seit Jahrzehnten sind die Kirchen in Deutschland ein wichtiger Faktor in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Energiepolitik. Nachdem es lange Zeit in den Kirchen durchaus sehr unterschiedliche Stellungnahmen zur Bewertung der Atomenergie gab, haben die Havarien in Tschernobyl (1986) für die EKD und Fukushima (2011) für die Katholische Bischofskonferenz zu einer mehrheitlichen Ablehnung der Atomenergienutzung aus verantwortungsethischen Gründen geführt.[6] In der Ethikkommission 2011 hatten die Kirchen einen erstaunlich hohen Anteil: In der 17-köpfigen Kommission waren drei Kirchenvertreter: Landesbischof Ulrich Fischer, Kardinal Reinhard Marx und ZdK-Präsident Alois Glück; zusätzlich weitere, mit den Kirchen eng verbundene Experten. Die Kirchenvertreter haben in der Ethikkommission mehrheitlich nicht mit einem kategorischen „Nein zur Kernenergie“ im Sinne einer deontologischen Risikoethik argumentiert, sondern abwägend und multiperspektivisch. Auch wenn die Ethikkommission ein weitgehend eindeutiges Ergebnis präsentierte, so zeigt sich doch, dass mancher Konflikt eher übergangen als gelöst wurde.

Die Energiewende ist gerade im Hinblick auf den Atomausstieg ein ethisch motiviertes Projekt, das am „Abseits des moralischen Standpunkts“ (Hegel) international zu scheitern droht. Dass auch Deutschland davor nicht gefeit ist, zeigen die hastigen Entscheidungen der Bundesregierung in Energiefragen in Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine deutlich. Sicherheitspolitische Ziele übertrumpfen, zumindest kurzfristig, Klima- und Umweltschutzziele. Am deutlichsten wird dies sicher darin, dass eine Regierung, an der die Grünen beteiligt sind – eine Partei, die sich historisch aus dem Widerstand gegen Atomkraft definiert – im zurückliegenden Jahr ernsthaft eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken in Betracht gezogen hat. Es wurde jedoch nur eine geringfügige Verlängerung der Laufzeit der drei letzten Atomkraftwerke (Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland) bis zum 15. April 2023 beschlossen, um über den Winter auch ohne das russische Gas Energiesicherheit garantieren zu können. Da eine darüber hinausgehende kurzfristig geplante Verlängerung der Laufzeiten erhebliche technische und sicherheitsrelevante Schwierigkeiten sowie einen neuen Grundsatzstreit mit sich gebracht hätte, wurde darauf verzichtet.

Die deutsche Energiewende im europäischen und globalen Kontext

Die risiko- und umweltethischen Argumente, mit denen die Energiewende in Deutschland primär begründet wurde, werden international mehrheitlich nicht geteilt. Aus China, USA, Indien, Brasilien und Russland gibt es Signale, die eher auf ein Festhalten an der bisherigen Atompolitik hindeuten und lediglich eine Überprüfung der Sicherheitsstandards oder eine Verzögerung von Neubauten erkennen lassen. Allerdings zeichnet sich aus preispolitischen Gründen auf dem Weltenergiemarkt nur vereinzelt eine Renaissance der Atomenergie ab. Dominant ist eine Renaissance der Kohle. Durch den massiven Anstieg des Gaspreises im Zuge des Ukrainekrieges greifen viele Länder weltweit, beispielsweise China, Südkorea, Pakistan und Indonesien, wieder verstärkt auf Kohle, die noch deutlich klimaschädlicher ist, zurück. Kohle ist so billig und so reichlich vorhanden, dass sie sich klimapolitisch zur Schicksalsfrage der Menschheit entwickelt. Wir sind weltweit dabei, die Türe zum 1,5-Grad-Ziel endgültig zuzuschlagen. 700 Gigatonnen CO2 dürfen wir weltweit noch emittieren, wenn wir dieses Ziel einhalten wollen. Es lagert jedoch noch mehr als das Zwanzigfache davon im Boden.

Weltweit hält die Einführung erneuerbarer Energien gegenwärtig bei Weitem nicht Schritt mit der wachsenden Weltenergienachfrage. Die Differenz zwischen der Nutzung erneuerbarer und fossiler Energie wächst zugunsten letzterer. Nach der Einschätzung von Ottmar Edenhofer ist deshalb „eine neue Ära der Klimapolitik“, in der wir durch climate engineering die Temperatur auf der Erde regulieren, unvermeidlich: „Wir müssen um jedes Zehntel Grad kämpfen. Zudem werden wir vorübergehend einen Temperaturanstieg über 1,5 Grad zulassen müssen und anschließend CO2 wieder aus der Atmosphäre holen.“[7] CO2-Abscheidung (direct air capture) und die Einlagerung von CO2 unter der Erde seien dafür die wichtigsten Techniken. Dazu brauche es jedoch noch Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Um das Fit-for-55-Paket, das die EU im Dezember 2022 beschlossen hat, umzusetzen, also die Reduktion der Treibhausgase um 55% bis 2030 im Vergleich zu 1990, sei eine angemessene Bepreisung von CO2 das vorrangige Instrument.

Der Erfolg der Klima- und Energiepolitik wird entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, Schwellenländer wie China und Indien dabei zu unterstützen, die kohlenstoffintensive Entwicklungsetappe zu überspringen oder abzukürzen. Eine weitere Voraussetzung für „saubere Entwicklung“ ist die Überprüfung der Förderprojekte der Weltbank hinsichtlich ihrer Klimaverträglichkeit, damit die Bemühungen um Klimaschutz nicht durch „fossile“ Entwicklungsprojekte konterkariert werden. Energiearmut wirkt sich lähmend auf nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus. Die zuverlässige, bezahlbare sowie natur- und gesundheitsverträgliche Versorgung der Armen mit Energie braucht eine Kombination von technischer und kultureller Intelligenz und hat für die Überwindung der weltweiten Armut eine Schlüsselbedeutung.[8]

Strategien der Energiewende

Die bisherigen Überlegungen zeigen: Eine konsistente Gewichtung, Zuordnung und Vernetzung der verschiedenen ökonomischen, sozialen und ökologischen Gesichtspunkte einer nachhaltigen Energieversorgung ist eine originär politische Aufgabe. Sie braucht einen stabilen gesellschaftlichen Konsens, um den vielen Akteuren bei ihren jeweiligen Abwägungsprozessen für energietechnische Entscheidungen Sicherheit zu geben. Dabei ist es hilfreich zwischen drei möglichen Strategien zu unterscheiden: 1. Effizienzsteigerung durch technische Innovationen und Strukturwandel; 2. Substitution fossiler Energien durch erneuerbare Energiequellen; 3. Veränderung der Konsummuster und Wertpräferenzen insbesondere in der globalen Ober- und Mittelschicht zugunsten von ressourcenleichten Wohlstandsmodellen. Hinreichende Änderungen sind nur dann erreichbar, wenn alle drei Dimensionen gleichzeitig in Angriff genommen und Synergien konsequent genutzt werden.

Ad 1: Es gibt gute Gründe für eine Priorisierung effizienzorientierter Strategien: Effizienz bedeutet, das gleiche Resultat mit weniger Energie zu erreichen. In anderen Worten ist die sauberste und günstigste Energie diejenige, die gar nicht erst verbraucht wird. Der benötigte Aufwand hinsichtlich der ökonomischen Kosten, des Forschungsbedarfs sowie der politischen Konfliktpotentiale ist nach derzeitigem Wissen deutlich geringer als vergleichbare CO2-Einsparpotentiale durch Aufstockungen erneuerbarer Energien oder von großtechnischen Lösungen.

Ad 2: Die Strategie der Substitution fossiler Energien durch erneuerbare Energien wird durch verschiedene politische Steuerungsinstrumente vorangebracht. Im Zentrum steht das Erneuerbare Energie Gesetz (EEG), das erstmals im Jahr 2000 in Kraft getreten ist und seither mehrfach geändert und novelliert wurde. Die jüngste Gesetzesnovelle, das „EEG 2023“, trat am 01. Januar 2023 in Kraft. Erklärtes Ziel ist nicht nur das Beschreiten des 1,5 Grad-Pfades nach dem Pariser Klimaabkommen, sondern vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auch die Stärkung der Unabhängigkeit von fossilen Energieimporten. Dazu soll das Tempo des Ausbaus der erneuerbaren Energien massiv erhöht und das Stromnetz an die neuen Herausforderungen angepasst werden. Bis 2030 sollen mindestens 80 Prozent des Deutschen Stromverbrauchs über erneuerbare Energiequellen gedeckt werden. Die vieldiskutierte EEG-Umlage, mit deren Hilfe in früheren Gesetzesfassungen der zusätzliche Finanzierungsbedarf für erneuerbare Energien über den allgemeinen Strompreis ausgeglichen werden sollte, wird vollständig abgeschafft. Stattdessen wurde mit dem „Energie- und Klimafonds“ ein Sondervermögen des Bundes für diese Zwecke eingerichtet.

Ad 3: Die Chancen für eine Entkoppelung wirtschaftlicher Entwicklung vom wachsenden Energieverbrauch sind – technisch gesehen – gut. Die Entkoppelung gelingt bisher jedoch vor allem deshalb nicht hinreichend, weil die Entlastungen weitgehend durch eine kontinuierliche Steigerung des Umsatzes sowie des Anspruchsniveaus kompensiert werden. Die wachsenden Konsum- und Mobilitätsbedürfnisse lassen keinen Sättigungspunkt erkennen und treiben den Energieverbrauch immer weiter in die Höhe. Eine besondere Herausforderung ist der rapide wachsende Stromverbrauch im digitalen Sektor. Deshalb ist die Bereitschaft der Menschen in den hochentwickelten Wirtschaften, durch ihre Nachfrage und damit durch ihre persönlichen Lebensstile, Konsummuster und Wertorientierungen an der Durchsetzung energiepolitischer Verantwortung mitzuwirken, heute ein entscheidendes Handlungsfeld der Energiewende. Die Effizienz- und Substitutionsbemühungen müssen also durch eine Suffizienzstrategie begleitet werden, um den Energieverbrauch im Ganzen zu senken.

Energiewende als Innovationsprojekt im Kontext der Bioökonomie

Die Energiewende wird durch weitere Politikstrategien flankiert. Hier sind vor allem die nationale und die regionalen Bioökonomiestrategien zu nennen. Ausgangspunkt für die Bioökonomie ist, wie für den Ausbau der erneuerbaren Energien, vor allem das Bemühen um Nachhaltigkeit und Klimaschutz vor dem Hintergrund planetarer Belastungsgrenzen. Bioökonomie zielt darauf, Ökonomie und Ökologie für ein nachhaltiges Wirtschaften im Sinne einer Kreislaufwirtschaft konsequent miteinander zu verbinden. Dadurch sollen die Lebensgrundlagen für Menschen, Tiere und Pflanzen erhalten, der Ressourcenverbrauch auf ein ökologisch verträgliches Maß gesenkt und das Recht einer wachsenden Weltbevölkerung auf Entwicklung ermöglicht werden. In den beiden Leitlinien der Nationalen Bioökonomiestrategie spiegeln sich die Ziele der Energiewende wider:

Leitlinie 1 – Mit biologischem Wissen und verantwortungsvollen Innovationen zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Entwicklung – zielt auf eine Wirtschaft, die vor allem durch Innovationen von biobasierten Technologien und Produkten erreicht werden soll. Dazu soll biologisches Wissen mit den Forschungen über die sozialen und ökologischen Systeme verknüpft werden. Explizit sollen ethische Grundsätze und gesellschaftliche Werte, etwa über den Wert der Natur, sowie Lebensstile und Konsummuster beachtet werden. Es gilt ressourcen- und umweltschonende Lösungen für einen nachhaltigen Konsum zu befördern.

Leitlinie 2 – Mit biogenen Rohstoffen zu einer nachhaltigen, kreislauforientierten Wirtschaft – erteilt biogenen Rohstoffen aufgrund ihrer Erneuerbarkeit den klaren Vorzug vor fossilen Rohstoffen. Sie müssen am Ende ihrer Nutzungskette nicht auf Müllhalden landen, sondern können kompostiert oder energetisch genutzt werden. Da sie prinzipiell nicht mehr CO2 in die Atmosphäre abgeben, als sie in ihrer Wachstumsphase aufgenommen haben, stellen sie eine klima- und ressourcenschonende Alternative zu fossilen Rohstoffen und Erzeugnissen dar. Die Biomasseproduktion ist durch die Verfügbarkeit von Fläche begrenzt und muss deshalb Lösungen sowohl durch neue Produktionssysteme, beispielsweise in technischer Umgebung oder der Nutzung degradierter Flächen, als auch durch einen effizienten und verantwortungsvollen Einsatz der biogenen Rohstoffe finden.[9]

Die Bioökonomiestrategien des Bundes und der Länder setzen die Ziele der Energiewende voraus und ergänzen sie um wichtige Aspekte. Sie nehmen zum Beispiel ernst, dass fossile Rohstoffe nicht nur zur Energieerzeugung genutzt werden, sondern auch als Rohstoffe zur stofflichen Verwertung, als Dünger für die Landwirtschaft und in vielen weiteren Anwendungsgebieten.

Im Vergleich zu den Politikstrategien der Energiewende sind diejenigen der Bioökonomie noch recht neu. Rein begrifflich ist Bioökonomie durch eine Unschärfe gekennzeichnet. Es wird sich erst zeigen, ob der Akzent auf Bio im Sinne einer Ökologisierung der Ökonomie oder auf Ökonomie im Sinne einer konsequenten Nutzung natürlicher Ressourcen für wirtschaftliche Zwecke gelegt wird.[10] Bereits jetzt ist aber deutlich, dass es sich um eine Politikstrategie handelt, die wesentlich auf Innovationen setzt. Aus dem Blickwinkel der Transformations- und Innovationsforschung gilt es daher, einige Aspekte zur Umsetzung der Bioökonomiestrategien zu beachten. Innovationen stellen nur einen von vier Veränderungsmodi der Transformation dar: Innovationen fügen dem Fundus des bisher Möglichen neue Optionen hinzu, Exnovationen hingegen entfernen gezielt (nicht nachhaltige) Optionen aus dem Möglichkeitsraum des Vorhandenen. Imitationen bringen keine neuen, sondern aus der Mode gekommene bekannte Optionen breitenwirksam zur Anwendung. Renovationen schließlich werten vorhandene Optionen auf, um ihre Nutzungsdauer zu verlängern oder um neue Lösungen für Probleme zu finden.[11] Innovationen sind nicht notwendig disruptiv, das heißt sie führen nicht immer zu einer schöpferischen Zerstörung (ein Begriff, den der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter, 1883-1950, geprägt hat) von Strukturen, die eigentlich abgelöst werden sollen. Selbst wenn Innovationen nachhaltigkeitsorientiert entwickelt werden, können sie als solche entweder scheitern, also in Hinblick auf die Nachhaltigkeit wirkungslos sein, oder durch nicht beabsichtigte Neben- und Rebound-Effekte in der Summe zu weniger nachhaltigen Lösungen führen.[12] Die Politik ist in der Umsetzung ihrer Bioökonomiestrategien demnach gut beraten, auch die anderen Veränderungsmodi von Transformationen zu berücksichtigen.

„Transformation by disaster“ oder „Transformation by design“?

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Wechsel zu einer postfossilen und postnuklearen Energie- und Ressourcenbasis einen bahnbrechenden Stellenwert für die Zukunftssicherung der Weltgesellschaft hat, dessen Tiefen‑, Breiten- und Fernwirkung mit dem der industriellen Revolution verglichen werden kann. Umfassende institutionelle Reformen sind allerdings gesellschaftlich erst dann um- und durchsetzbar, wenn alternative Werte und Lebensstile sich in einem signifikanten Maß von unten her ausgebreitet haben. Das Verunsichernde daran ist: Einen solchen Wandel kann man nicht verordnen, er ist nicht planbar. Er kann aber auf vielfältige Weise unterstützt werden. Vor allem die städtische Kommunalpolitik kann soziale Innovationen befördern. Weltweit sind heute die urbanen Ballungsräume die bevorzugten Experimentierfelder und sozialen Labore für kulturelle Neuerungen im ökosozialen Bereich.

Je länger die globale Energiewende auf sich warten lässt, desto wahrscheinlicher wird eine von ökologischen Katastrophen, ökonomischen Verwerfungen und sehr großen sozialen Ungerechtigkeiten geprägte ungeregelte Transformation (transformation by disaster). Für eine geregelte Energiewende (transformation by design) ist es deshalb notwendig, nicht darauf zu hoffen, dass sich die Klimaprobleme durch eine Verknappung fossiler Energierohstoffe von allein lösen, sondern sie national und global, politisch und gesellschaftlich konsequent anzugehen. Die Ziele der Energiewende sind ethisch unabweisbar. In seinem 2011 veröffentlichten Gutachten Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation bringt dies der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) auf den Punkt: „Das kohlenstoffbasierte Weltwirtschaftsmodell ist auch ein normativ unhaltbarer Zustand, denn es gefährdet die Stabilität des Klimasystems und damit die Existenzgrundlagen künftiger Generationen. Die Transformation zur Klimaverträglichkeit ist daher moralisch ebenso geboten wie die Abschaffung der Sklaverei und die Ächtung der Kinderarbeit.“[13]

Die neue Ära der Energiepolitik ist also auch moralisch geboten. Sie ist ein zentrales Bewährungsfeld für Schöpfungsverantwortung, Klimaschutz und Nachhaltigkeit. Sie konkretisiert die hohen normativen Ansprüche im Feld komplexer Abwägungs- und Gestaltungsprozesse. Anknüpfend an die zitierten historischen Vergleiche des WBGU-Gutachtens kann abgleitet werden, dass eine erfolgreiche Energiepolitik von einem kulturellen Wandel begleitet werden muss. Papst Franziskus resümiert in seiner Enzyklika Laudato si‘ bezüglich der Umwelt- und Klimakrise: „Das Problem ist, dass wir noch nicht über die Kultur verfügen, die es braucht, um dieser Krise entgegenzutreten. Es ist notwendig, leaderships zu bilden, die Wege aufzeigen, indem sie versuchen, die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generationen unter Einbeziehung aller zu berücksichtigen, ohne die kommenden Generationen zu beeinträchtigen.“ (LS 53) Als ein Akteur im Sinne dieser leaderships kommt auch der Kirche ein Auftrag zur Mitgestaltung der Großen Transformation zu. Sie ist auf mehreren Ebenen gefragt:

  • Als Raum für Pioniergruppen, die erhoffte Änderungen durch exemplarisches Handeln in die Tat umsetzen.
  • Als ethische Instanz, die dem sich latent bereits vielschichtig vollziehenden Wertewandel Ausdruck verleiht und ihn im Sinne einer innovativen ökologischen und energiepolitischen Verantwortung fördert.
  • Langfristig notwendig sind auch Regeländerungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Dazu müssen die oft noch diffusen und widersprüchlichen Transformationen der Wertvorstellungen in konsistente ethische, rechtsfähige Regelsysteme übersetzt werden.

Die Energiewende stellt tiefgreifende Anfragen an die zivilisatorischen Leitwerte des modernen Wohlstandsmodells und fordert – theologisch gesprochen – eine „Umkehr“ in den Lebensstilen und vielen Denkgewohnheiten. Die Energiewende braucht die Kraft einer Hoffnung, die auch bei großen Widerständen und manchen Rückschlägen nicht aufgibt, die aber auch selbstkritisch immer wieder neu die eigenen Verhaltensmuster hinterfragt. Sie ist eine zivilisatorische Bewährungsprobe für den Mut zum Wandel und eine Moral, die leicht ausnutzbare und insofern riskante Kooperationen stabilisiert.

 

Anmerkungen

[1]    Vgl. Weinheimer, Julia (2023): Stromnetze für die Nutzung von Solarenergie. Eine klimaethische Untersuchung von Aufgaben, Risiken und Lösungsvorschlägen. Marburg (im Druck).

[2]    Vgl. Scheer, Hermann (2005): Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien. München.

[3]    Vgl. https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/globalisierung/52761/peak-oil/ (letzter Zugriff: 28.12.2022).

[4]    Vgl. Lukas, Stefan (2018): Entwicklungen in der US-Energiepolitik. Von der neuen Unabhängigkeit der USA und der zunehmenden Blockbildung am Golf, in: Bundesakademie für Sicherheitspolitik (Hg.): Arbeitspapier Sicherheitspolitik, Nr. 24/2018.

[5]    https://www.n-tv.de/wirtschaft/Scholz-eroeffnet-erstes-LNG-Terminal-article23791193.html (letzter Zugriff 29.12.2022).

[6]    Vgl. Schneider, Mycle u.a. (2011): Nuclear Power in a Post-Fukushima World. 25 Years after the Chernobyl Accident. Washington (Worldwatch Institute); Kersten, Jens u.a. (2012): Europe after Fukushima. German Perspectives on the Future of Nuclear Power. München (Rachel Carson Center Perspectives, 2012,1).

[7]    Vgl. Edenhofer, Ottmar (2022): Wir steigen in eine neue Ära der Klimapolitik ein, in: SZ vom 29.12.2022, S. 2.

[8]    Vgl. Ostheimer, Jochen/Vogt, Markus (2008): Energie für die Armen. Entwicklungsstrategien angesichts des Klimawandels, in: Amosinternational 1/2008, 10-16.

[9]    Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) (Hg.) (2020): Nationale Bioökonomiestrategie, Berlin, S. 4-5, 14-16.

[10] Vgl. Vogt, Markus (2021): Christliche Umweltethik. Grundlagen und zentrale Herausforderungen. Freiburg, Basel, Wien, S. 557.

[11]   Vgl. Paech, Niko (2005): Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum. Eine unternehmensbezogene Transformationstheorie. Marburg, S. 252-255.

[12]   Vgl. Kistler, Sebastian (2023): Innovationen, Nachhaltigkeit und der Wert von Vielfalt, in: Schlote, Yannick; Feiler, Therese (Hg.): Freiheit (TTN Edition). München, S. 41-48 (im Druck).

[13]   Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertag für eine Große Transformation. Berlin, S. 1.

 

 

 

Die Verfasser

Prof. Dr. Markus Vogt ist Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitglied im Bayrischen Bioökonomierat und berät seit 25 Jahren die ökologische Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz.

Dr. theol. Sebastian Kistler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Markus Vogt im BMBF-Projekt „Vorsorge und Innovation als ethische Prinzipien in der Bioökonomie“. In den zurückliegenden Semestern hat er die Professur für Theologische Ethik der Universität Passau und die Professur für Theologische Sozialethik und Gesellschaftswissenschaften an der Universität Regensburg vertreten.