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Stefan Gaßmann | April 2024

Demokratie braucht Religion

Sozialphilosophische Impulse für ein säkulares Zeitalter

1. Braucht Demokratie Religion?

„Demokratie braucht Religion“, so lautet der provokante Titel des Vortrags, den der bekannte Jenaer Sozialphilosoph und Soziologe Hartmut Rosa beim Diözesanempfang in Würzburg 2022 hielt.[1] Provokant erscheint diese These aus zwei Gründen: Erstens ist zu fragen, ob „nicht vielmehr Religion Demokratie braucht“[2]. Stehen nicht Phänomene grassierenden Machtmissbrauchs, wie sie in allen religiösen Hierarchien vorkommen, in einem eklatanten Widerspruch zu den emanzipatorischen Impulsen, die Religion in einer demokratischeren Form bieten könnte? Angesichts der starken Hierarchisierung der katholischen Kirche und der Missbrauchskrise, die freilich mittlerweile auch die evangelische Kirche erreicht hat, ist es bei Rosa daher alles andere als einleuchtend, dass er bei der These „Demokratie braucht Religion“, besonders die katholische Kirche in den Blick nimmt. Gerade im Blick auf sie könnte man sagen, dass dieser Grund aus der religiösen Innenperspektive dafür spricht, dass vielmehr Religion Demokratie brauche als umgekehrt. Aus der Außenperspektive ließe sich sodann zweitens fragen, ob es in einem säkularen Zeitalter nicht anmaßend ist, wenn man behauptet, dass Demokratie Religion brauche. Denn historisch gesehen, mussten Demokratie und Freiheit über weite Strecken zumindest gegen die institutionalisierte Religion errungen werden.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die These, Demokratie brauche Religion, angesichts des Relevanzverlusts der Kirche in der Öffentlichkeit nur allzu gerne aufgegriffen wird, um diesen Verlust zu kompensieren. Wie der Pastoraltheologe Jan Loffeld deutlich macht, gibt es in der Kirche eine Tendenz auf Felder auszuweichen, für die die Kirche zwar durchaus auch Zuständigkeit beanspruchen kann, die andere aber besser bearbeiten können.[3] Man könnte überspitzt und vereinfachend sagen: Je weniger öffentliche Relevanz Religion zukommt, umso mehr müsse sie so tun, als sei sie in Politik und Sozialethik unersetzlich. Das ist interessanterweise eine These, die nicht nur aus säkularer Sicht in der einen oder anderen Weise vorgebracht wird, sondern häufig auch aus einer extrem konservativen religiösen Perspektive: Während erstere Religion allgemein nur eine Existenz im Bereich des Privaten zugestehen und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit beargwöhnen, glauben Letztere, dass die Kirche sich von den Geschäften der Welt reinzuhalten und sich auf ihren religiösen Markenkern zu konzentrieren habe. Das kann man dann, wie Papst Benedikt XVI., Entweltlichung nennen oder – in einer wesentlich extremeren Lesart – wie in dem in den USA intensiv rezipierten Buch „Die Benedikt-Option“, als ein Plädoyer dafür, nachgerade eine „Gegenkultur“ [4] zum saeculum, zur Welt, zu bilden und das heißt dann für westliche Gesellschaften: auch eine Gegenkultur zur Demokratie. Es spricht also zunächst wenig für Hartmut Rosas These, dass Demokratie Religion brauche.

2. Religion in unserem säkularen Zeitalter

Der bekannte amerikanische Sozialphilosoph Charles Taylor, dem Hartmut Rosas Denken viel verdankt, hat versucht den geistesgeschichtlichen Charakter unseres säkularen Zeitalters herauszuarbeiten. Er spricht davon, dass man Säkularisierung nicht einfach nur als Trennung von Kirche und Staat betrachten könnte – von ihm Säkularität 1 genannt (vgl. CT 44f.) – wie auch nicht als eine „Subtraktionsgeschichte“ – was der Säkularität 2 entspräche (vgl. CT 956). Mit „Subtraktionsgeschichte“ meint er ein Verständnis von Säkularität, das bedeuten würde, dass man nur von der Religion lassen müsse, und schon würden Vernunft und Humanität gedeihen. Ich denke, man könnte einer solchen Subtraktionsgeschichte aber auch, als ein Echo auf religiöser Seite, eine „Additionsgeschichte“ gegenüberstellen: Wenn die Menschen nur wieder religiös genug würden, dann erst wären Humanität und Vernunft verwirklicht. Als ein solcher Versuch, eine „Additionsgeschichte“ zu erzählen, könnte der Versuch gewertet werden zu behaupten, dass „Demokratie Religion brauche“. Wir leben aber in einem Zeitalter der Säkularität 3, in dem der Glaube eine Option unter vielen ist, die daher durchaus eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen kann, aber nicht mehr als andere Optionen. Sie ist genauso fragil und angefragt, wie alle anderen Möglichkeiten. Die eigene Positionierung findet in einem Raum statt, der an seinen extremen Rändern von strikter orthodoxer Religiosität einerseits und einem völlig transzendenzlosen Humanismus andererseits markiert ist, wobei sich aber die meisten Menschen eher zwischen diesen Polen positionieren (vgl. CT, 1008). Jede Positionierung wird angefragt durch die anderen und bedarf daher einer beständigen Vergewisserung nach innen und nach außen, ohne dabei hoffen zu dürfen, allein durch diese Vergewisserung Lebensrelevanz simulieren zu können, den anderen sozusagen die eigenen Überzeugungen andemonstrieren zu können.

Etwas ähnliches scheint der systematische Theologe Magnus Lerch im Blick zu haben, wenn er  von einer Entkoppelung von Rationalität und Relevanz der Gottesfrage spricht.[5] Damit meint er, dass auch in einem Zeitalter, in dem viele Menschen der Religion gegenüber indifferent seien, eine rationale Reflexion der Gottesfrage noch nicht überflüssig sondern vielmehr notwendig sei, um sich darüber zu vergewissern, dass es um die Wahrheit geht. Daraus folgt aber noch nicht, dass jemand, dem man rational zwar plausibel machen kann, dass der Glaube an Gott nicht unvernünftig ist, dies auch als eine existenziell relevante Ansicht erfasst. Das beschreibt aber auch etwas Wahres für religiös inspiriertes politisches und sozialethisches Engagement: Nur weil sich rational einsichtig machen lässt, dass das Engagement in Politik und Gesellschaft und die sozialethische Reflexion in den Kern des Christentums gehören – und das ist unbestritten so – ist das noch keine Garantie dafür, dass damit auch die Relevanz für das christliche Leben, nach innen wie nach außen klar wird. Es lässt Menschen zunächst indifferent zurück, innen wie außen.

In diesem Kontext ist aber gerade Rosas These spannend, wenn man sie nicht als Versuch der Erzählung einer Additionsgeschichte missversteht. Denn sie leitet sich von seinem umfassenderen philosophischen Ansatz, der sogenannten „Resonanztheorie“ her, die in intensiver Weise an Taylors eigene philosophische Anthropologie anschließt. Sie ist deswegen interessant, weil sie die existenzielle Dimension der Erfahrung in den Mittelpunkt stellt und damit von dem Aspekt der Lebensrelevanz ausgeht, zugleich aber reflektiert, wie diese Erfahrung von Sozialformen ermöglicht oder verhindert wird und wie diese Erfahrung umgekehrt Sozialformen verändern kann. Sie ermöglicht damit vielleicht für Christen in einem Zeitalter, in dem ihr Glaube eine Option unter vielen ist, eine Sprache zu sprechen, die die Lebensrelevanz ihres Glaubens und vor allen Dingen des daraus resultierenden sozialen und politischen Engagements deutlich macht und zugleich mit der damit verbundenen Anthropologie eine philosophische Rahmentheorie zu haben,[6] die auch nach innen plausibel macht, dass es sich hierbei um einen rationalen Zusammenhang handelt.

Demokratie ist nach Taylor ein Teil der Erzählung der Moderne und damit der Säkularisierung. Sie kann aus religiöser Sicht negativ als Verlust von Durchsetzungsmacht verstanden werden. Aber sie kann auch positiv gedeutet werden: Erst in einem, mit Jürgen Habermas gesprochen, „herrschaftsfreien Diskurs“, wie ihn Demokratie idealerweise ermöglicht, geht es wirklich um Wahrheit. Niemand kann beanspruchen sie zu haben, aber darauf vertrauen, dass sie selbst stark genug ist, um sich im gemeinsamen, produktiven Streit durchzusetzen. Daher rührt auch die Verpflichtung und Notwendigkeit zu einer rational ausweisbaren Selbstvergewisserung in unserem säkularen Zeitalter.

Diese Verpflichtung auf die Wahrheit hat eine eminent soziale Dimension: Der im Herbst letzten Jahres verstorbene italienische Philosoph Gianni Vattimo spricht davon, dass Säkularisierung mit dem Gedanken der christlichen Brüderlichkeit zusammenhängt:[7] Es geht nicht darum, sich mit Gewalt gegen den Anderen durchzusetzen, sondern ihn in seiner Anderheit auszuhalten und sich mit ihm zu verbrüdern. Das bedeutet auch, sich selber zu „schwächen“, was in christlicher Perspektive durch die Fleischwerdung Gottes, seine Kenosis vorgebildet sei.[8] Säkularisierung kann man dann als eine Abkehr von allen Idolen verstehen.[9] Was soll das heißen? Schon die mystische Theologie und verschiedene große Heilige wie Ignatius von Loyola[10] waren von der tiefen Einsicht bewegt, dass eine lebendige Gottesbeziehung sich in einer gewissen Schwebe halten muss, weil sie Gott nicht auf ein Gottesbild und damit nicht auf einen Begriff bringen kann, der dann wieder als ein Idol fungieren könnte. Denn dann stünde nicht die Beziehung zum lebendigen und sprechenden Gott im Blick, sondern ein bestimmter Begriff, ein bestimmtes Gottesbild, das im Zweifel mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Gerade aber in der Schwächung, die im Verzicht auf Idole und Durchsetzungsmacht liegt, dem Vertrauen darauf, dass sich die Wahrheit selbst zeigt, kann als Vertrauen in den lebendigen, starken und handelnden Gott und damit als eine echte, lebendige Beziehung verstanden werden. So herum wird im Blick auf die Brüderlichkeit ein Schuh daraus: Die Brüderlichkeit, in der man sich öffnet und damit angreifbar und verletzlich macht, ist der Raum, in dem der Gott, der keine Idole braucht, ja sie alle überwindet, allererst erlebt werden kann. Erst durch Verzicht auf das Verlangen, sich durchzusetzen unter dem Vorwand „Gott“ durchzusetzen, gibt man ihm selbst Raum. Die Säkularisierung eröffnet damit die Perspektive auf das, was nur die Kirchen anbieten können, als ihr „Alleinstellungsmerkmal“: eine Beziehung zu Gott um seiner selbst,[11] nicht um eines bestimmten Gottesbildes, eines Ansehens- oder Machtgewinns willen.

Stellt sich dann aber nicht doch wieder die bereits oben aufgeworfene Frage, ob sich in einem säkularen Zeitalter christliche Religion aus dem politischen Geschäft heraushalten sollte? Wenn Religiosität gerade keinen Herrschafts– sondern einen Wahrheitsanspruch erhebt, der in all seiner Schwäche – in der Torheit des Kreuzes (vgl. 1 Kor 1,23) – auftritt, ist es dann nicht vermessen, wieder eine Notwendigkeit zu insinuieren, indem man davon spricht, dass Demokratie Religion brauche? Müsste nicht auch hier wieder gelten, dass Religion Demokratie brauche?

Hier kann ein Impuls des großen jüdischen Religions- und Sozialphilosophen Emmanuel Lévinas hilfreich sein, der in einer Radikalität und Konsequenz wie bisher vielleicht kein anderer den Weg von den Idolen weg zum lebendigen, wirklich transzendenten Gott hin unter den Bedingungen der Moderne zu denken versucht hat. Er spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einer Religion für Erwachsene, „die das Risiko des Atheismus akzeptiert, das man eingehen, aber überwinden muß – als Preis ihrer Mündigkeit.“[12] Die Schwächung des Gottdenkens ist der Preis, den es kostet, sich für einen sprechenden Gott zu öffnen. Für Lévinas ist der Ausgangspunkt dafür aber gerade die Verpflichtung in der Begegnung mit dem anderen Menschen und der darin aufscheinenden Forderung nach Gerechtigkeit: „Die dem Anderen, meinem Nächsten verschaffte Gerechtigkeit schenkt mir eine unaufhebbare Nähe zu Gott. Sie ist so innig wie das Gebet und die Liturgie, die ohne Gerechtigkeit nichts sind.“[13] „Die Beziehung zum Menschen, in der die Berührung mit dem Göttlichen stattfindet, ist nicht eine Art geistige Freundschaft, sondern diejenige, die sich in einer gerechten Ökonomie manifestiert, erprobt und erfüllt, einer Ökonomie, für die jeder Mensch voll verantwortlich ist,“[14] sodass der Messianismus, der für Lévinas als gläubigen Juden ein wichtiges Thema seiner Philosophie ausmacht, darauf hinausläuft, eine gerechte Gesellschaft auszubilden.[15]

Ohne hier näher auf die Philosophie von Lévinas eingehen zu können, ist der entscheidende Gedanke einer erwachsenen und mündigen Religion, dass diese Mündigkeit nicht einfach bedeutet, autonom und emanzipiert zu sein und damit alle Zwänge abzuschütteln, sondern sich frei der Ver-antwortung stellen zu können. Der Abbau der Idole und der Vereindeutigung in Begriffen macht frei und offen für den lebendigen Anruf des Anderen, der mich in die Pflicht nimmt. Und erst in der Antwort auf diese Verpflichtung erklingt auch eine Antwort auf den Anruf Gottes. Wer den Anruf des lebendigen Gottes ernst nimmt, stellt sich der Verpflichtung gegenüber seinen verletzlichen Mitmenschen.

Es geht somit, um mit Bernhard Waldenfels zu sprechen, um „Antwortlichkeit“: Responsivität.[16] Und um solche Responsivität geht es auch Rosa in seiner Resonanztheorie. Wenn man die hier skizzierten philosophischen Impulse zum Verstehen von Säkularität zusammenfasst, dann wird dabei vor allen Dingen deutlich, dass es für Christen in ihrer Selbstverständigung ganz zentral um die Beziehungsdimension geht, sowohl zu Gott als auch damit verbunden die Beziehungen zu anderen Menschen. Rosa stellt genau diese Beziehungsdimension ins Zentrum. Das zusammengenommen mit dem oben bereits angeführten Aspekt, dass in der Resonanztheorie zentral die Erfahrung, noch präziser: die Erfahrung von Anruf und Antwort in den Blick kommt, macht deutlich, warum es sinnvoll ist, Rosas These, dass Demokratie Religion brauche, eingehender zu bedenken.

3. Die Erfahrung von Resonanz

Es gibt dabei noch einen weiteren Grund: Charles Taylor verdeutlicht geistesgeschichtlich, was Lévinas der Sache nach systematisch aufzeigt: Gewalt verschwindet nicht einfach dadurch, dass man den Transzendenzbezug des Menschen abräumt (vgl. CT, 1090-1178). Das 20. Jahrhundert gibt ein trauriges Zeugnis dafür ab, dass auch ohne Religion die Gewalt in der Auseinandersetzung nicht verschwindet. Zudem haben viele Menschen, auch wenn sie sich selbst nicht als religiös empfinden, das Gefühl, dass im Blick etwa auf die Erfahrung der Natur und des Schönen, etwas fehlt, wenn man es ausschließlich immanent und letztlich objektivierend betrachtet (vgl. CT, 993f.). Dieser Reduktionismus hängt nach Taylor mit der sogenannten „desengagierten Vernunft“, zusammen, die die Welt nur unter dem Gesichtspunkt der Verfügbarkeit und Handhabbarkeit beschreibt und einem damit verbundenen Selbstverständnis von Subjekten als einem „abgepufferten Selbst“ (vgl. CT, 899), das in sich steht und sich nicht von der Welt um sich herum berühren lässt. Den Weltbezug des Subjekts stellt Rosas Fortschreibung der Anthropologie Taylors in den Mittelpunkt, denn die Resonanztheorie versteht er auch als eine „Soziologie der Weltbeziehung“. Dabei stehen insbesondere auch schon die von Taylor ausgemachten Beziehungen zur Natur, zur Kunst, zur Geschichte und eben auch zur Religion im Blick, als sogenannte vertikale Resonanzachsen (vgl. HR 2017, 435-514). Daneben geht es aber genauso um die horizontalen Achsen zwischen den Menschen – wozu er insbesondere auch die Demokratie in den Blick nimmt (vgl. HR 2017, 362-381), – und auch zur unbelebten Welt, den sogenannten diagonalen Resonanzachsen (vgl. HR 2017, 381-434). In all diesen Hinsichten geht es Rosa dabei darum, Alternativen zum „abgepufferten Selbst“ und damit eine gewisse Offenheit für Ausbrüche aus der Immanenz aufzuzeigen und dabei von ihm so genannte „repulsive“, also ablehnende, verschließende, potentiell aggressive Beziehungsformen zur Welt in all ihren Dimensionen abzubauen. Beides macht den Ansatz zu einem interessanten Bezugspunkt für das Verstehen von Religion unter säkularen Bedingungen.

Zugleich ist dabei immer der Gedanke, dass alle Beziehungen, die eine menschliche Person zu jemandem oder etwas hat, ein Geschehen von Anruf und Antwort ist, wobei das nicht in einem verbalen Sinne gemeint ist. Die Abpufferung des Selbst, die nach Rosa vor allen Dingen auch durch die Beschleunigungsdynamik der Spätmoderne – immer höher, immer schneller, immer mehr – gefördert wird (vgl. etwa HR 2017, 728f.), macht das Geschehen gelingender Responsivität, also Resonanz, aber immer schwieriger, sodass er zu dem Befund kommt: „Wir haben eine Krise der Anrufbarkeit, und die zeigt sich in der Glaubenskrise und in der Demokratiekrise gleichermaßen.“ (HR 2022, 32)

Neben diesem Moment der „Anrufung“ oder „Anrufbarkeit“, umfasst das Erleben von Resonanz zwei weitere wichtige Aspekte: zum einen das Erlebnis von Selbstwirksamkeit. Resonanz ist als Beziehungsmodus selbst keine Emotion; so können etwa auch traurige Geschichten als resonant erlebt werden (vgl. HR 2017, 298). Resonanz bezeichnet eine Beziehung in der jemand sich als er selbst getroffen, berührt, gemeint erlebt und auch umgekehrt erlebt, dass er das oder den oder die, die ihn erreicht, selber bewegt und berührt: „Resonanz […] bezeichnet ein wechselseitiges Antwortverhältnis, bei dem sich die Subjekte nicht nur berühren lassen, sondern ihrerseits zugleich zu berühren, das heißt handelnd Welt zu erreichen vermögen.“ (HR 2017, 270) Subjekte erleben damit Selbstwirksamkeit: Sie können erreicht und berührt werden und vermögen dies umgekehrt auch. Dieses wechselseitig selbstwirksame responsive Verhältnis führt bei seinem Gelingen zur wechselseitigen Anverwandlung (vgl. HR 2017, 318), die eine Verflüssigung der Relation bedeutet: Sie stellt ein relationales Band her, das beide Seiten verändert ohne, dass diese in ihrem Selbststand unterminiert würden. Tiefe Verständigung ist mit Resonanz gemeint, eine Beheimatung in der Welt, die nicht als fremdes und zu beherrschendes Objekt gegenübertritt, sondern als ein sprechendes Gegenüber.

Ganz entscheidend ist dabei, dass das Erleben von Resonanz wesentlich mit der Unverfügbarkeit dieses Geschehens zusammenhängt (vgl. etwa HR 2017, 295). Da sie einen Beziehungsmodus bezeichnet, in der der Andere als Anderer getroffen werden soll, kann sich das Selbst nicht abpuffern und den Anderen – sei es der andere Mensch, die unbelebte Welt oder etwa auch Kunst – auf eine Identität festlegen, in eindeutigen Begriffen und Verobjektivierungen. Resonanz lässt sich nicht machen und nicht erzwingen. Sie kann immer auch ausbleiben. Dabei ist ein solchermaßen resonantes Subjekt nicht einfach nur offen, ohne jede Abpufferung. Eine responsive Relation kann nur zwischen zwei hinreichend geschlossenen Polen entstehen, damit sie als sie selbst mit eigener Stimme sprechen können – die Verflüssigung der Beziehung absorbiert oder eliminiert diese autonome, eigene Stimme nicht. Das heißt vor allen Dingen: Sie verlangt ein mündiges, emanzipiertes, erwachsenes Subjekt, das so einerseits mit eigener Stimme für sich sprechen kann, aber zugleich nicht so geschlossen, dass es nicht mehr anrufbar ist und so Antwort geben kann, ver-antwortlich ist.

Damit wird deutlich, inwiefern diese Kategorie gut zur Beschreibung des Standpunkts von Christen unter säkularen Bedingungen herangezogen werden kann: Es geht darum, sich berühren zu lassen von anderen und damit auch offen, allerdings ebenso potentiell verletzbar, zu sein für die Berührung durch die Transzendenz; und dies erfordert Mündigkeit, das Sprechen mit eigener Stimme. Und des Weiteren: Das je eigene Erleben von Resonanz kann ich nicht erzwingen und auch nicht bei anderen erzwingen. Aber ich kann einen Raum schaffen, in dem für den Anderen Resonanz ebenso möglich ist – notabene: möglich. Hilfreiche Bedingungen für Resonanz kann man schaffen, nicht aber Resonanz selber, ebenso wie nicht mechanisch dafür gesorgt werden kann, dass der Andere Resonanz genauso erlebt wie ich.

Damit kommt aber die soziale Dimension der Resonanzerfahrung in den Blick. Die Resonanztheorie Rosas, findet ihre stärkste Motivquelle in der Suche nach einem Begriff des guten Lebens (vgl. HR 2017, 749f.), wobei hier die aus Rosas intensiver Auseinandersetzung mit Charles Taylors politischer Philosophie gewonnene Perspektive bestimmend ist, dass Menschen in ihren Handlungen immer von „starken Wertungen“ geleitet seien, die markieren, was ein gutes Leben ausmacht (vgl. HR 1998, 98-121). Starke Wertungen sind für Taylor und Rosa Quellpunkte der je individuellen Identität: Sie orientieren das Handeln und die Erschließung von Welt durch „moralische Landkarten“, in denen sie ausweisen, was es „wert ist getan zu werden“ und zwar unabhängig von der jeweiligen Motivation – der schwachen Wertung – es tatsächlich zu tun. Rosas Beispiel zur Unterscheidung dieser beiden Typen bringt das instruktiv auf den Punkt: Es ist wert am Sonntag in die Messe zu gehen, aber ich habe Lust, ein Bier zu trinken (vgl. HR 2017, 228).

4. Resonanz und Sozialform

Starke Wertungen und moralische Landkarten sind dabei aber immer sozial erschlossen und dem Subjekt in gewisser Weise vorgegeben. Neben dieser sozial vorgeformten „ersten Interpretationsebene“ gibt es aber immer eine zweite (vgl. HR 1998, 69): Diese ist das, was man durchschnittlich mit der aktiven Deutung des individuellen Subjekts assoziieren kann. Diese zwei Ebenen stehen in Wechselwirkung miteinander (vgl. HR 1998, 162-167): Kann das Subjekt seine Selbstdeutung nicht zu den sozialen Vorgaben in Beziehung setzen, so würde Taylor von Entfremdung sprechen (vgl. HR 1998, 201). Subjekte können aber grundsätzlich auf die sozialen Vorgaben der ersten Interpretationsebene Einfluss nehmen und diese so verändern, dass sie sich authentisch darin wiederfinden können (vgl. HR 1998,195-200). Man könnte also in Paraphrase des Titels der Dissertation Rosas sagen: Die erste Interpretationsebene ist der Bereich „kultureller Praxis“, die zweite Interpretationsebene diejenige individueller „Identität“, deren Gelingen oder Misslingen durch das Verhältnis zur ersten Interpretationsebene bestimmt ist.

Das Kriterium, das Rosa vorschlägt, um zu bewerten, ob soziale Formationen ein gutes Leben ermöglichen oder nicht ist „Resonanz“, die an den „Orten“ starker Wertungen auftritt (vgl. etwa HR 2017, 66-69). Diese Orte oder Quellen starker Wertungen sind dabei Orte, an denen etwas das Subjekt mit eigener Stimme anspricht (vgl. etwa HR 2017, 229). Wenn diese Quellen starker Wertungen aber sozial erschlossen sind, gleichzeitig aber auch immer je individuell gedeutet und zugänglich gemacht werden, dann heißt das erstens, dass sich jeder Einzelne auf eine Beziehung zu diesen Quellen einlassen und dafür seinen authentischen Weg finden muss; zweitens aber auch eine Beziehung für andere zu diesen Quellen ermöglichen muss, um deren existenzielle Relevanz für diese zu erschließen. Dabei kann es sein, dass die Anderen ganz andere Weisen des Weltzugangs haben und daher einen anderen als den eigenen Weg gehen müssen, um zu den Quellen starker Wertung in Beziehung zu treten. Es geht also um mehrere responsive Relationen zwischen den Quellen starker Wertungen und dem je Einzelnen, zwischen den Mitmenschen und dem je Einzelnen und den Mitmenschen und den Quellen starker Wertungen. Gelingt hier ein responsives Verhältnis, stellt sich Resonanz ein: Verständigung (vgl. HR, 2017, 334f.) gelingt, es stellt sich eine Versöhntheit (vgl. etwa HR 2017, 360f., 532f.) ein, in der Widerspruch und Verletzung zwar grundsätzlich möglich sind, aber nicht zu einem Abbruch der Beziehung führen, diese vielmehr intensivieren, wie besonders deutlich im Vorgang des Verzeihens wird (vgl. HR 2017, 360f.).

Diese Versöhntheit ist dabei nicht inhaltlich festgelegt. Das gute Leben ist in einer säkularen Gesellschaft nicht eindeutig und für alle definierbar.[17] Die Unverfügbarkeit von Resonanz umfasst auch eine Art Ergebnisoffenheit (vgl. HR 2022, 37): dass wirklich Neues entstehen und beginnen kann. Eine Gemeinschaft, die auf so einen Beziehungsmodus hin angelegt ist, um einerseits Räume für Resonanz zu eröffnen und andererseits selber von resonanten Beziehungen getragen zu bleiben, verbindet Rosa mit einem Begriff, der auch für die katholische Soziallehre und -ethik eine zentrale Rolle einnimmt: den des Gemeinwohls.

Gemeinwohl bezeichnet für Rosa genau die Dimension, in der mit Hegel gesprochen, die Entzweiung – oder die Pluralität – nicht zur wechselseitigen Entfremdung führt, sondern zu einer Versöhntheit von Allgemeinheit und Individuellem. Das ist für Rosa zutiefst demokratisch. In der Demokratie erleben Menschen idealerweise wechselseitige Selbstwirksamkeit ihrer Stimmen und „können auf diese Weise Strukturen, in denen wir handeln, als ‚antwortend‘ und entgegenkommend erfahren […][,]weil sich die Bürger*innen als kollektiv selbstwirksam, als zusammen handelnd  erleben.“ (HR 2020, 160)

Diese „republikanische Vorstellung der Demokratie“ (HR 2020, 160) sei Ausdruck einer Vorstellung von Selbstwirksamkeit, in der es nicht darum gehe, sich gegen den Anderen durchzusetzen, „sondern einander zu erreichen. Dies setzt aber […], die operative Wirksamkeit der Idee eines Gemeinwohls als regulative Idee politischen Handelns voraus.“ (HR 2020, 161) Dabei ist nach Rosa die Unschärfe dessen, was Gemeinwohl konkret bedeute wichtig, denn das Ringen darum belebe den politischen Betrieb, (HR 2020, 161f.) ist aber zugleich „als eine bestimmte Form der Beziehung zu verstehen.“ (HR 2020, 163) Gemeinwohl als Beziehungsdimension beinhalte drei Beziehungen zu „Vergangenheit und Zukunft der politischen Gemeinschaft, zu einer institutionell und materiell geteilten (und daher immer auch räumlich verfassten) Lebenswelt und zu den anderen Mitgliedern dieses Gemeinwesens“. (HR 2020, 163) Die Verwirklichung des Gemeinwohls hängt dann daran, entsprechende Resonanzachsen zu etablieren, sodass diese Beziehungen als resonant erfahren werden können. Mit anderen Worten: Eine Gemeinschaft bedarf der Ausbildung einer Beziehung zu ihrer Tradition und Geschichte, zu dem Raum, in dem sie lebt, und ihrer Mitglieder untereinander.

So verstanden besteht das soziale Band einer Gesellschaft „nicht aus einer vorgegebenen Substanz – etwa geteilten Werten, Bräuchen oder Geschichten – […], sondern [wird] durch ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zueinander gebildet […], und dieses Verhältnis lässt sich als Beziehung des Hörens und Antwortens beschreiben.“ (HR 2020, 164) Es geht mithin nicht darum, einfach Bestehendes zu übernehmen, sondern es sich anzuverwandeln durch gemeinsames Handeln.

Ein gutes Leben hängt folglich nicht nur an der Erfüllung individueller Präferenzen, sondern eminent am Gemeinwohl, an der Ausbildung einer gemeinsamen Lebenswelt, die eine Ordnung (vgl. HR 2020, 168f.) widerspiegelt, die moralischen Landkarten entspricht und damit einen Zugang zu starken Wertungen, mithin Resonanz, überhaupt erst ermöglicht. Gemeinwohl bedeutet, einen Ausgleich zwischen Individuum und Allgemeinheit zu finden. Auch wenn Resonanz unverfügbar bleibt, scheint eine auf die Herstellung stabiler Resonanzachsen ausgerichtete Gemeinschaft doch notwendig eine Orientierung auf das Gemeinwohl als Beziehungsmodus zu verlangen, ohne dass hier der Gemeinwohlbegriff material gefüllt werden oder mit der Vorstellung des je individuellen guten Lebens gleichgesetzt werden müsste: „Die Aufgabe verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Institutionen und der Prinzipien demokratischer Partizipation und Repräsentation besteht dann darin gleichsam die Beziehungskanäle oder eben die Resonanzachsen zu stiften und zu schützen, entlang deren sich lebendige Resonanzbeziehungen ausbilden können.“ (HR 2020, 167) Vielleicht bringt Rosa damit das zum Ausdruck, was Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika Fratelli tutti als Politische Liebe bezeichnet.[18]

Die Frage ist dann nun, wie die soziopolitischen Rahmenbedingungen für die Realisierung einer Ausgestaltung des politischen Lebens als Hören und Antworten beschaffen sein müssen. Und hierbei weist Rosa den Religionen eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung des Vermögens zu Responsivität zu. Die gegenwärtige Demokratiekrise versteht Rosa als Ausdruck einer zunehmenden Verhärtung, Abpufferung und damit der Verunmöglichung eines versöhnten Miteinanders von wechselseitiger, sich berührender und sich möglicherweise dennoch widersprechender responsiver Relationen. In seinem Vortrag „Demokratie braucht Religion, beschreibt er das in drastischen Worten: „Da haben wir keine Debatte mehr darüber, wie wir leben wollen, wie wir unsere jeweilige Lebensform einrichten, sondern die anderen sollen’s Maul halten; wir betrachten die anderen als Feinde, die wir zum Verstummen bringen wollen! Und das auf beiden Seiten: Entweder erklären wir sie zu Faschisten oder zu sonst was, zu Landesverrätern etwa.“ (HR 2020, 26) Demgegenüber kann gerade die Religion eine Alternative aufweisen: „Demokratie funktioniert im Aggressionsmodus nicht, ich glaube das kann man ganz grundsätzlich sagen. Die Losung ‚Gib mir ein hörendes Herz‘ von König Salomo erlangt […]so auch eine politische Dimension. Früher habe ich immer gesagt, Demokratie funktioniert nur, wenn jede und jeder eine Stimme hat, die hörbar gemacht wird. In letzter Zeit komme ich aber mehr und mehr zur Überzeugung: Es gehören auch Ohren dazu. Es reicht nicht, dass ich eine Stimme habe, die gehört wird, ich brauche auch Ohren, die die anderen Stimmen hören. Und ich würde noch darüber hinausgehen und sagen, mit den Ohren braucht es auch dieses hörende Herz, das die anderen hören und ihnen antworten will. Der andere soll eben gerade nicht sein Maul halten, weil er sowieso ein Volksverräter oder ein Idiot oder sonst was ist.“ (HR 2022, 31)

Damit ist genau jene Dimension markiert, die oben herausgearbeitet wurde und sich wie folgt pointieren lässt: Christen und Christinnen stehen nach innen und außen vor der Aufgabe, ein „hörendes Herz“ zu bilden, sich sowohl religiös berühren zu lassen, als auch vom anderen Menschen und darauf jeweils Antwort zu geben. Religion eröffnet damit Räume, in denen Gemeinwohl als Beziehungsmodus heranreifen kann. Rosa beantwortet daher die Frage, ob Demokratie daher Religion brauche, mit einem entschiedenen Ja. Aber es ist doch deutlich geworden, dass damit nicht gemeint ist, dass Religion eine notwendige Bedingung von Demokratie sei, sondern, dass Religion vielmehr eine wichtige Form ist, wie Menschen in die Lage der Anrufbarkeit versetzt werden und damit in der Lage sind, einander zu hören und mit eigener Stimme zu antworten. Das bedeutet also nicht, dass hier eine Relevanz simuliert würde, die religiösen Gemeinschaften in Demokratien nicht mehr zukommt, in dem Sinne, dass sie unabdingbar sind. Es ist keine Additionsgeschichte, sondern vielmehr eine positive Bejahung der Rolle der Religion in einer Gesellschaft vieler Optionen, die darauf angewiesen ist, dass Menschen in ihrer Anderheit offen und hörend sind und zugleich auch auf den Anruf des Anderen antworten. Die Offenheit für die Dimension des ganz Anderen verbindet sich mit einer Offenheit für den anderen Menschen.

5. Religiöse Sozialethik als Resonanzimpuls für die Demokratie

Damit ist aber noch nicht viel über die Ausgestaltung staatlicher Institutionen und der Wirtschaft gesagt. Rosa versteht seine Resonanztheorie aber ausdrücklich auch als Sozialkritik. Aber inwiefern könnte christliche Sozialethik, wenn man sie in ein Verhältnis zur Erfahrung religiöser Resonanz setzt, ein sozialkritisches Element enthalten, das plausibel macht, wieso Sozialethik auch unter Bedingungen eines säkularen Zeitalters kein Versuch ist, Relevanz in einem Feld zu simulieren, für das die Kirchen zwar auch zuständig sind, das aber andere besser ausfüllen können.

Taylor spricht in Bezug auf die praktischen Auswirkungen des christlichen Glaubens davon, dass dieser nie in einem „Kodex“ fixiert werden könnte, weil es gerade um die Versöhnung einer horizontalen und einer vertikalen Dimension gehe (vgl. CT, 1171f.). Es geht gerade darum, in den horizontalen Bezügen zu Menschen immer je neu die vertikale Dimension zu suchen – und umgekehrt: „Das bedeutet jedoch, daß es keine Formeln dafür gibt, wie man als Christ in der Welt handeln sollte. Denken wir etwa an den unter heutigen Umständen bestmöglichen oder am höchsten eingeschätzten Kodex. Stets stellt sich die Frage: Könnte man uns alle in vertikaler Richtung bewegen, indem man diesen Kodex transzendiert, verbessert oder uminterpretiert? Im Evangelium verfährt Christus ständig in dieser Weise.“ (CT, 1172f.)

Insofern kommt aber gerade der Tatsache eine immense Bedeutung zu, dass die katholische Soziallehre als „Gefüge offener Sätze“ keine bestimmte Blaupause für die Gesellschaft anbietet, sondern immer nur einen Maßstab zur kritischen Bewertung im je neuen und je anderen Ringen um Lösungen. Das kann ein heilsames Aufbrechen der „Nomolatrie“ (CT, 1173) moderner Gesellschaften sein, die verobjektiverte und versachlichte Diskussion über politische Themen immer an die konkrete Begegnung zurückbindet, ohne deswegen sagen zu müssen, dass die Regeln schlecht wären oder, dass sie ein Hindernis auf dem Weg zum Anderen wären. Regeln können aber selber zum Idol werden. Dies aufzubrechen bedeutet, zu verhindern, dass Regeln, Prozesse oder Bürokratie an die Stelle der je konkreten Verantwortung für den Anderen treten. Diese müssen vielmehr immer wieder auf die konkrete Verpflichtung dem Anderen gegenüber zurückgeführt werden.[19] Insofern kann hier die These „Demokratie braucht Religion“ auch deutlich machen, dass Religion Ressourcen bereithält, Verkrustungen und „Abpufferungen“ immer wieder aufzubrechen, um demokratische Prozesse auf den Weg zur immer neuen Verwirklichung des Gemeinwohls, verstanden als Beziehungsmodus, zu eröffnen und damit die Dimension von Hören und Anrufbarkeit wachzuhalten und das, ohne vorschreiben zu wollen, was nun inhaltlich konkret wie zu passieren habe.

Abschließend möchte ich noch einmal unterstreichen, dass die Resonanztheorie aber nicht nur Impulse dafür geben kann, deutlich zu machen, inwiefern Christen und Christinnen mit ihrem religiös motivierten und geprägten Handeln einen wichtigen Beitrag zu gelingender Demokratie leisten können – und das ja auch vielfach tun –, sondern auch einer rationalen Vergewisserung nach innen, die die Erfahrungsdimension von Glauben ernst nimmt und damit vielleicht auch eine Alternative zu einer allzu verkopften und rationalen, „scholastischen“ Sozialethik bietet.

Karl Rahners vielzitierter Satz „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“[20] bringt hier meines Erachtens Entscheidendes zum Ausdruck. Auch Jan Loffeld unterstreicht, dass es viel stärker zu lernen, gälte Zeugnis von der Erfahrung des Glaubens abzulegen, als sie rational vorzudemonstrieren zu versuchen.[21] Das heißt dann aber, dass die Öffnung für diese Erfahrung und der Verzicht auf Gewalt auch etwas ist, dass Christen und Christinnen in einer demokratischen Gesellschaft viel besser möglich ist. Versteht man Demokratie und Säkularität als Freiheit für die Wahrheit, die sich nicht aufzwingt, sondern in sich selber steht und für sich selber spricht, den Gläubigen anspricht, dann ist Demokratie und der damit einhergehende Gewaltverzicht, mit Taylor gesprochen, geradezu ein Verzicht auf Götzendienst, Verzicht auf eine Verengung Gottes in Idole (vgl. CT, 1273f.). So gesehen braucht dann nicht nur Demokratie Religion, sondern in gleicher Weise braucht Religion Demokratie, ohne dass das deswegen heißen müsste, dass parlamentarische Verfahren im religiösen Kontext immer das Angemessenste sind. Wir sprechen nicht umsonst in diesen Zusammenhängen von Synodalität. Der gemeinsame Weg, was syn-hodos wörtlich bedeutet, ist immer ein Weg des gemeinsamen Hörens auf Gott mit und im Anderen. Und aus diesem Hören kann eine Antwort mit eigener Stimme erwachsen, die den Anderen anspricht und ihn nicht niederbrüllt. Oder anders und vielleicht ganz einfach gesagt: Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen. Hartmut Rosas Ansatz kann hierfür den Blick in fruchtbarer Weise schärfen und theoretische Kategorien bereitstellen, die diese Grunderfahrung christlichen Glaubens rational durchdringen können, um somit auch in einem säkularen Zeitalter sprachfähig zu sein.

Anmerkungen

[1]    Referenzen zu den diesem Heft hauptsächlich zugrundeliegenden Veröffentlichungen von Hartmut Rosa und Charles Taylor werden im Text nach folgenden Sigeln zitiert: CT= Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt a.M. 2009. HR 1998= Rosa, Hartmut, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt a.M. 1998. HR 2017= Ders., Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 52017. HR 2020= Ders., Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung. In: Ketterer, Hanna/Becker, Karina (Hg.) Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa. Berlin ²2020. HR 2022= Ders., Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. München 2022.

[2]    Weber, Anne/Wilhelms, Günter, „Demokratie braucht Religion“? Braucht Religion Demokratie? Sozialethische Anmerkungen zum Verhältnis von Politik und Kirche. In: ThGl 113, Nr. 4 (2023). 312.

[3]    Vgl. Loffeld, Jan, Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz. Freiburg i.Br. 2024, 36 u. 44.

[4]    Vgl. Dreher, Rod, Die Benedikt-Option. Eine Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft. Kißlegg 2018.

[5]    Vgl. Lerch, Magnus, Wenn ohne Gott nichts fehlt. Religiöse Indifferenz als Herausforderung systematischer Theologie. In: IKaZ 50 (2021), 4-21.

[6]    Gerade dies ist nach Lerch unerlässlich für einen rational verantworteten Glauben: Vgl. ebd., 13.

[7]    Vgl. Vattimo, Gianni, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott? Aus dem Italienischen von Martin Pfeiffer. München/Wien 2004, 37f.

[8]    Vgl. ebd., 38.

[9]    Vgl. ebd., 40-42.

[10]   Dazu ein bis heute sehr lesenswerter, instruktiver Beitrag: Przywara, Erich, Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, Friedrich Nietzsche. In: Zeitschrift für Aszese und Mystik 11 (1936).

[11]   Vgl. Loffeld, aaO., 92.

[12]   Lévinas, Emmanuel, Eine Religion für Erwachsene. In: Ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 2017, 27.

[13]   Ebd., 30.

[14]   Ebd., 32.

[15]   Ebd., 33f.

[16]   Vgl. grundlegend dazu Waldenfels, Bernhard, Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994; ders., Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Berlin 2015.

[17]   Vgl. Loffeld, aaO., 94.

[18]   Vgl. grundlegend dazu: Schallenberg, Peter, Fratelli tutti. Eine theologische Sozialethik der politischen Liebe (= Kirche und Gesellschaft 475). Mönchengladbach 2020.

[19]   Dies ist eines der zentralen Anliegen von Emmanuel Lévinas’ politischer Philosophie. Grundlegend dazu sei auf die Beiträge in folgendem Sammelband  verwiesen: Bodenheimer, Alfred/Fischer-Geboers, Miriam, Lesarten der Freiheit. Zur Deutung und Bedeutung von Emmanuel Lévinas‘ Difficile Liberté. Baden-Baden 2016.

[20]   Rahner, Karl, Frömmigkeit früher und heute. In: Ders., Glaube im Alltag. Schriften zur Spiritualität und zum christlichen Lebensvollzug bearbeitet von Alber Raffelt, Freiburg i. Br. 2006, 39.

[21]   Vgl. etwa Loffeld, aaO., 96-98.

 

Der Verfasser

Mag. Theol. Stefan Gaßmann ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle.