Peter Kardinal Turkson | Oktober 2019

Integraler Humanismus und Wirtschaftsökologie

Überlegungen aus Anlass der Amazonas-Synode

In seiner Enzyklika Laudato si‘ schreibt Papst Franziskus: „Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise. Die Wege zur Lösung erfordern einen ganzheitlichen Zugang, um die Armut zu bekämpfen, den Ausgeschlossenen ihre Würde zurückzugeben und sich zugleich um die Natur zu kümmern“ (Laudato si‘ 139).

Wie recht der Heilige Vater mit dieser Feststellung hat, wird an kaum einem Ort der Erde so offensichtlich wie in der Amazonas-Region. Die Ausbeutung der Natur, insbesondere auch die Vernichtung des Regenwaldes, wird sowohl von einer kleinen Elite vor Ort als auch von internationalen Konzernen betrieben, die ihre Profite und Interessen ohne Rücksicht auf die Natur verfolgen. Die unmittelbar betroffenen Menschen hingegen werden in diese wirtschaftlichen Aktivitäten nicht miteinbezogen; ziemlich oft verlieren sie dadurch sogar ihren Lebensraum und ihre herkömmlichen Erwerbsquellen. Das betrifft in besonderem Maß die indigenen Volksgruppen, aber auch Landarbeiter, Fischer, Kleinbauern und andere.

Von Europa aus betrachtet, mag es sich bei all dem auf den ersten Blick um ferne Probleme handeln. So einfach dürfen wir es uns aber nicht machen – und das nicht nur aus moralischen Gründen, weil uns das Schicksal anderer Menschen, auch wenn sie in entlegenen Weltgegenden leben mögen, nicht egal sein darf. Die sozialen und ökologischen Herausforderungen in der Amazonas-Region berühren vielmehr auf mittelbare Weise die vitalen Interessen der ganzen Menschheit. Bei der Amazonas-Synode handelt es sich deswegen keineswegs um ein Ereignis von bloß lokaler Bedeutung.

Amazonien – die grüne Lunge der Erde

Der Amazonas-Regenwald ist eine der herausragenden Naturregionen der Welt, die dort herrschende Biodiversität ist einzigartig. Es handelt sich aber nicht nur um den Lebensraum einer unüberschaubaren Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten, sondern auch um die angestammte Heimat der Ureinwohner Amazoniens. Im Zuge der Nutzbarmachung des Regenwalds sind deren Rechte oftmals mit Füßen getreten worden. Die Landnahme erfolgte jahrzehntelang nach dem Recht des Stärkeren. Es kam immer wieder zu Vertreibung und Gewalt gegen die Indigenen; andere schlimme Begleitumstände sind sklavereiähnliche Arbeitsbedingungen, Prostitution, Krankheiten.[1]

Der Regenwald Amazoniens ist zudem von enormer Bedeutung für das Weltklima. Bekanntlich nehmen Bäume klimaschädliches Kohlendioxid aus der Luft auf, speichern es als Kohlenstoff im Holz und geben den für uns Menschen und unsere Mitgeschöpfe lebenswichtigen Sauerstoff ab. Es wird geschätzt, dass allein der Amazonas-Regenwald derzeit rund zwei Milliarden Tonnen CO2 im Jahr absorbiert. Etwa ein Viertel des weltweiten Austauschs zwischen Atmosphäre und Pflanzenwelt findet hier statt.[2] Völlig zu Recht spricht man deshalb von Amazonien als der grünen Lunge der Erde. Der international renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber, der 2015 gemeinsam mit mir und einigen anderen die Enzyklika Laudato si‘ vorgestellt hatte, bezeichnet die tropischen Regenwälder als „vitale Organe des planetarischen Gefüges.“ Deren Zusammenbruch „hätte einen enormen Einfluss auf die globalen Stoffkreisläufe und somit wiederum auf das Klima der Erde. Dadurch könnte eine tödliche Spirale in Gang gesetzt werden.“[3]

Der Schutz des Amazonas-Regenwalds ist deshalb nicht nur eine Frage des Natur- und Artenschutzes, sondern er ist auch ein menschenrechtliches Gebot, eine soziale Frage und eine klimapolitische Notwendigkeit. Genau auf solche Zusammenhänge und wechselseitige Bedingtheiten bezieht sich Papst Franziskus mit der ganzheitlichen Perspektive von Laudato si‘ und seiner dort vorge-stellten Vision einer „integralen Ökologie“: „Angesichts des Ausmaßes der Veränderungen ist es nicht mehr möglich, eine spezifische und unabhängige Lösung für jeden Teilbereich des Problems zu finden. Entscheidend ist es, ganzheitliche Lösungen zu suchen, welche die Wechselwirkungen der Natursysteme untereinander und mit den Sozialsystemen berücksichtigen (Laudato si‘ 139).

Fortschritte in Amazonien – und Rückschritte

Manche Entwicklungen in den letzten Jahren waren durchaus positiv und geben Anlass zu Hoffnung. So sind die Rechte der indigenen Völker Amazoniens heutzutage zumindest grundsätzlich anerkannt und rechtlich garantiert.[4] Es bestehen ausgewiesene Reservate und anerkannte indigene Territorien. Die Situation ist zwar keineswegs überall befriedigend, aber sie hat sich gegenüber früheren Zeiten doch signifikant verbessert. Dennoch ist das koloniale Erbe eine Hypothek, die nicht so leicht abzutragen ist. Sie lastet auf allen sozialen Institutionen – selbstverständlich auch auf der Kirche. Das ist uns bewusst, und es ist auch ein zentrales Thema, dem wir uns auf der Synode widmen.

Papst Franziskus verurteilt insbesondere jede Form eines evangelisierenden Neokolonialismus, wie er von manchen evangelikalen Pfingstgemeinschaften in Südamerika betrieben wird. Und er betont sehr nachdrücklich, dass wir als katholische Kirche in unseren Evangelisierungsanstrengungen die indigenden Völker in ihrer traditionellen Spiritualität, in der Gott selbstverständlich stets gegenwärtig war, zu respektieren haben. Cláudio Kardinal Hummes, der vom Papst benannte Generalrelator der Synode, drückt unser Anliegen folgendermaßen aus: „Die Evangelisierung der indigenen Völker soll zum Ziel haben, für die indigenen Gemeinden eine indigene Kirche zu bilden, in der sie ihren Glauben mittels ihrer Kultur und Identität, ihrer Geschichte und Spiritualität zum Ausdruck bringen.“[5]

Dieser Respekt vor den indigenen Völkern Amazoniens, vor ihrer Geschichte und Kultur ist untrennbar mit der Frage des Regenwald-Schutzes verbunden. Auch das ist ein eindrückliches Beispiel dafür, welche mögliche Wirklichkeit uns der Papst vor Augen stellt, wenn er von seiner Idee der integralen Ökologie spricht. Denn wer den Regenwald schützt, schützt auch die Ureinwohner Amazoniens, weil das ihr angestammter Lebensraum ist. Wer die Indigenen schützt, schützt aber auch den Regenwald. Weil die Ureinwohner einen ganzheitlichen Lebensstil im Einklang mit ihrer Umwelt pflegen, sind ihre Territorien de facto zugleich Naturreservate.

Eine weiteres Hoffnungszeichen ist, dass seit den 1990er Jahren immer mehr und immer größere Naturschutzgebiete im Regenwald errichtet worden sind. Seit der Jahrtausendwende sind zudem ausgedehnte Mosaike von angrenzenden Naturschutzgebieten und indigenen Reservaten gebildet worden. Bis 2010 wurden auf diese Weise 166 Millionen Hektar Regenwald in Amazonien unter Schutz gestellt, das entspricht 25 Prozent der Gesamtfläche – fast so viel wie die Gebiete Deutschlands, Frankreichs, Spaniens und Italiens zusammen umfassen.[6] Vor dem Hintergrund dieser positiven Entwicklung konnte Cláudio Maretti, Leiter der Living Amazon Initiative, einer globalen Initiative des World Wide Fund For Nature Netzwerkes, noch vor vier Jahren schreiben: „So groß die Gefahren sind, die dem Naturraum Amazonien von vielen Seiten drohen, so gut ist diese Region aufgestellt, im Jahr 2050 ein Vorzeigemodell für nachhaltige Entwicklung zu werden.“[7]

Dennoch bleiben die Herausforderungen groß, und es gibt immer wieder auch Rückschritte. Zu dem Zeitpunkt, in dem ich dieses Heft verfasse, erreichen uns zutiefst beunruhigende Nachrichten. Im Amazonas Regenwald wüten in diesen Tagen verheerende Brände. Gestern, am 25. August 2019, sagte Papst Franziskus beim Angelus-Gebet auf dem Petersplatz: „Beten wir, damit sie mit dem Einsatz aller so schnell wie möglich gebändigt werden. Diese Lunge aus Wäldern ist lebensnotwendig für unseren Planeten.“ Die Feuer sind diesmal offenbar völlig außer Kontrolle geraten, aber es handelt sich leider nicht um die ersten Brände und Rodungen in diesem Jahr. Das brasilianische Institut für Weltraumforschung INPE hat vor kurzem Satellitendaten veröffentlicht, die zeigen, dass allein im Juli dieses Jahres 2254 Quadratkilometer des brasilianischen Regenwaldes gerodet worden sind. Das ist rund viermal so viel wie im gleichen Monat des Vorjahres und entspricht dem Verlust einer Fläche von drei Fußballfeldern – pro Minute! Noch beunruhigender als diese Tatsache ist aber, dass die brasilianische Regierung dieses Alarmsignal nicht zum Anlass genommen hat, gegenzusteuern und etwas gegen die Abholzungen zu unternehmen. Vielmehr wurde der Chef der INPE, ein renommierter Wissenschaftler, entlassen, weil er die Daten veröffentlicht hatte. Wissenschaftlich zuverlässige Informationen für die breite Öffentlichkeit aber sind ein Schlüsselfaktor. Erst als den Menschen durch im Internetzeitalter leicht zugängliche Satellitenbilder das dramatische Ausmaß der Entwaldung buchstäblich vor Augen geführt werden konnte, baute sich der öffentliche Druck auf, durch den in den letzten Jahren immer mehr für den Schutz des Regenwaldes erreicht werden konnte.[8] Niemand, auch keine gewählte Regierung, hat das Recht, durch Manipulation oder Zensur die Menschen von solchen Informationen abzuschneiden, die für eine demokratische Willensbildung unbedingt notwendig sind.

Dennoch wäre es falsch, Brasilien und den Ländern der Amazonas-Region die alleinige Verantwortung für die Abholzung des Regenwaldes zuzuschieben. Es gibt vielmehr einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Natur in Amazonien wie auch in anderen ärmeren Regionen der Welt und der Wirtschaftsweise sowie den Konsumgewohnheiten in den wohlhabenden Ländern des Nordens.

Konsumismus und sozio-ökologische Krise

Ein großer Teil der Abholzungen des Amazonas-Regenwaldes stand – und steht immer noch – im Zusammenhang mit Landwirtschaft, vor allem industriell betriebener Landwirtschaft. Dabei sind die negativsten Effekte in weitem Maß auf Dynamik zurückzuführen, die durch die Konsumgewohnheiten in den wohlhabenden Ländern des Nordens und in den aufstrebenden Nationen Asiens, vor allem in China, angetrieben wird. In seinem Bericht an den Club of Rome über die tropischen Regenwälder bringt es der renommierte Biologe Claude Martin, ehemaliger Generaldirektor des WWF International, auf die plakative Formel: „Der weltweite Hunger nach Fleisch zerstört die Regenwälder Südamerikas“.[9] Er kann diese für manchen vielleicht provokante These sehr gut begründen.

Brasilien, das größte Land Amazoniens, ist heute der weltweit größte Exporteur sowohl von Soja als auch von Rindfleisch. Das war nicht immer so. Die drastische Ausweitung des Sojaanbaus in Lateinamerika begann in den 1990er Jahren und korreliert zeitlich mit der weltweiten Zunahme des Fleischverzehrs. Zur gleichen Zeit kam es aus denselben Gründen zu einer gewaltigen Erhöhung der Produktion von Rindfleisch. In weniger als zehn Jahren stieg der Export von brasilianischem Rindfleisch um das siebenfache an.

Sowohl für den Sojaanbau als auch zur Schaffung von Rinderviehweiden wurden seit den 1990er Jahren gewaltige Regenwaldflächen in Amazonien gerodet.[10] Claude Martin verweist auf Studien, die zeigen, dass in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts das Ausmaß der Rodungen in den brasilianischen Teilen des Amazonas-Regenwaldes empirisch nachweisbar mit dem Preis für Soja korrelierte. Einerseits fielen Regenwaldflächen dem Sojaanbau unmittelbar zum Opfer, andererseits führte die Ausweitung des Anbaus auch mittelbar zu Abholzungen, weil die Grundstückspreise in die Höhe getrieben wurden und die Viehwirtschaft deshalb vermehrt neue Weideflächen durch die kostengünstigere Rodung von Regenwald schuf. Für die Rinderzucht ist dabei ein ganz besonders hohes Maß an Flächenverbrauch notwendig. In dem Bericht an den Club of Rome ist von einer Besatzdichte von einer einzigen Kuh pro Hektar in Brasilien die Rede.

Aber auch dort, wo die Flächen effizienter genutzt werden, wie etwa in der Europäischen Union, ist für die Rinderzucht wesentlich mehr wertvoller Boden erforderlich als für die Haltung von Geflügel (pro Kalorie 18-mal mehr), von Schweinen (20-mal mehr) oder gar für die Getreideproduktion (79-mal mehr). Mit Blick auf den Klimawandel kommt hinzu, dass bei der Rinderzucht durch die Verdauung der Wiederkäuer enorme Mengen des Treibhausgases Methan freigesetzt werden. Auch die Klimabilanz der Rinderproduktion fällt deshalb sehr negativ aus. Pro Kalorie erzeugten Fleischs übersteigen die Treibhausgasemissionen der Rinderzucht jene der Schweinehaltung um den Faktor sieben, die der Geflügelzucht um den Faktor neun und die des Getreideanbaus um den Faktor 70.[11]

Diese wenigen Daten zeigen, dass aus der Perspektive einer integralen Ökologie selbst eine – jedenfalls für die meisten Menschen in den wohlhabenden Ländern – so alltägliche Gewohnheit wie der Fleischkonsum ernstzunehmende sozialethische Fragen aufwirft.[12] Der Sojaanbau und die Rinderzucht in Amazonien sind allerdings nur zwei Beispiele dafür, wie die Ausbeutung und Zerstörung der Natur in den Ländern des Südens mit den Konsumgewohnheiten in den reichen Ländern des Nordens zusammenhängen. Es ist deshalb wohlfeil, wenn sich viele Europäer oder Nordamerikaner heute darauf beschränken, die Politik der neuen Regierung in Brasilien zu kritisieren, aber nicht zugleich bereit sind, den Beitrag der eigenen Lebens- und Wirtschaftsweise an der Misere in den Blick zu nehmen. Auch wer unseren Schritt zu einer integralen sozialethischen Perspektive nicht mit vollziehen mag, kann schlechterdings nicht bestreiten, dass Konsum und Produktion zusammenhängen. Wer die Ausbeutung von Mensch und Natur vor allem in den ärmeren Regionen der Welt beenden möchte, der kann sich deshalb nicht darauf beschränken, dort faire und nachhaltige Produktionsbedingungen einzufordern, sondern der muss auch für ein solidarischeres Konsumverhalten in den reichen Ländern eintreten und das selbst praktizieren. Papst Franziskus spricht diese Wahrheit in schlichten, aber unmissverständlichen Worten aus: „Wir wissen sehr wohl, dass es unmöglich ist, das gegenwärtige Konsumniveau der am meisten entwickelten Länder und der reichsten Gesellschaftsschichten aufrechtzuerhalten, wo die Gewohnheit, zu verbrauchen und wegzuwerfen, eine nie dagewesene Stufe erreicht hat“ (Laudato si‘ 27).

Die institutionelle und die moralische Dimension der Krise

In den politischen und medialen Debatten in den wohlhabenden Ländern wird dieser Aspekt des Konsums allerdings zumeist ausgeblendet. Es wird vielmehr allzu oft suggeriert, dass es rein institutionelle Lösungen für die komplexe sozio-ökologische Krise geben könne, die sogar marktkonform und kostenneutral seien. Das impliziert das Versprechen, dass die Menschen an ihrer Lebensweise, ihrem Komfort und ihren Konsumgewohnheiten keine Abstriche machen müssen. Das aber wird der Dimension der Krise und der dramatischen Dringlichkeit insbesondere des Klimawandels nicht gerecht.

Genau hier liegt übrigens der Grund, warum sich Papst Franziskus in Laudato si‘ skeptisch über den Handel mit Emissionszertifikaten äußert – ein Aspekt der Enzyklika, der teilweise auch von wohlwollenden Kommentatoren kritisiert worden ist. Das Missverständnis liegt dabei darin, dass es dem Heiligen Vater an dieser Stelle keineswegs um den Ausdruck von grundsätzlichem Misstrauen gegenüber marktwirtschaftlichen Instrumenten geht. Vielmehr kritisiert er, dass hier etwas als schnelle und schmerzlose Lösung verkauft wird, die aber Gefahr läuft, „sich in einen Behelf [zu] verwandeln, der vom Eigentlichen ablenkt und erlaubt, den übermäßigen Konsum einiger Länder und Bereiche zu unterstützen“ (Laudato si‘ 171).

Zweifellos ist das einer der wichtigsten Beiträge, den die Kirche mit ihrer Soziallehre zu der internationalen Debatte über die sozio-ökologische Krise leisten kann: immer wieder daran zu erinnern, dass diese Krise nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine genuin moralische Dimension hat. Darauf hat vor über dreißig Jahren bereits der heilige Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis hingewiesen, als er schrieb, dass „eine Analyse, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche und politische Ursachen der Unterentwicklung (und analog auch der sogenannten Überentwicklung) beschränken würde, unvollständig [wäre]. Es ist deshalb erforderlich, die Ursachen moralischer Natur zu ermitteln, die auf der Ebene des Verhaltens der Menschen als verantwortliche Personen wirken, um den Fortgang der Entwicklung zu hemmen und ihre Vollendung zu verhindern“ (Sollicitudo rei socialis 35). Auch Papst Benedikt XVI. hat in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate davor gewarnt, ein übertriebenes Vertrauen in Institutionen zu setzen, „so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen allein nicht aus, denn die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor allem Berufung und verlangt folglich von allen eine freie und solidarische Übernahme von Verantwortung“ (Caritas in veritate 11). Deshalb kann eine Lösung auch nicht bloß in institutionellen Reformen liegen, sondern dazu gehört unabdingbar auch ein Mentalitätswandel der Menschen – theologisch gesprochen: Umkehr.

Wiederum ist dabei eine ganzheitliche, integrale Perspektive einzunehmen. Denn weder auf der Ebene der Problemanalyse noch auf jener der Lösungsperspektiven kann man die moralischen und die institutionellen Aspekte klar voneinander trennen; vielmehr bedingen sie einander. Es ist nicht nur so, dass der Markt die Konsumwünsche der Menschen befriedigt, sondern er ist auch darauf angelegt, immer neue Wünsche zum Konsum zu wecken, um seine Produkte abzusetzen. Papst Franziskus stellt deswegen fest: „Der zwanghafte Konsumismus ist das subjektive Spiegelbild des techno-ökonomischen Paradigmas“, von dem unsere kapitalistischen Marktgesellschaften beherrscht sind (Laudato si‘ 203).

Das techno-ökonomische Paradigma

Das menschliche Grundproblem liegt darin, dass die einseitige Konsumorientierung die Menschen vom Eigentlichen ablenkt. Sie werden an der Oberfläche gehalten und daran gehindert, in die tieferen Dimensionen ihrer Existenz und des Zwischenmenschlichen vorzustoßen. Sie erliegen damit einer Illusion von Freiheit. Der Heilige Vater zitiert in diesem Zusammenhang den großen Theologen Romano Guardini, der bereits 1950 über den „Menschen der Masse“ geschrieben hat, dieser nehme „die Gebrauchsdinge und Lebensformen an, wie sie ihm von der rationalen Planung und den genormten Maschinenprodukten aufgenötigt werden, und tut dies im Großen und Ganzen mit dem Gefühl, so sei es vernünftig und richtig. Ebenso wie er gar nicht den Wunsch hat, aus eigener Initiative heraus zu leben.“[13]

Der vor knapp drei Jahren verstorbene Philosoph Zygmunt Bauman hat analysiert, dass sich die von Guardini beschriebenen Gefahren in der entfesselten Konsumgesellschaft unserer Tage nicht nur bewahrheitet haben, sondern dass die Entwicklung noch viel weiter fortgeschritten ist, und zwar so weit, dass die Grenzen zwischen Konsument und Ware, zwischen Subjekt und Objekt inzwischen verschwimmen: „In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert werden.“[14]

Auch deswegen müssen wir bei der Suche nach Lösungsperspektiven die von Papst Franziskus empfohlene integrale Perspektive einnehmen: weil eben auch die Probleme heutzutage „ganzheitlicher“ Art sind. Die von Guardini und Bauman so eindrücklich beschriebenen Strukturen der Konsumgesellschaft und deren Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen sind Ausdruck jenes Phänomens, das der berühmte Philosoph Jürgen Habermas schon vor Jahrzehnten als „Kolonialisierung der Lebenswelt“[15] durch die Imperative des ökonomischen Systems beschrieben hat.[16]

Papst Franziskus spricht in ähnlicher Stoßrichtung von dem „technokratischen Paradigma“ (Laudato si‘ 106 ff.) bzw. dem „techno-ökonomischen Paradigma“ (Laudato si‘ 51 u. 203), das alles und jedes – und am Ende auch jede und jeden – dem rechnenden Denken unterwirft und in seinem Gebrauchswert bzw., ökonomisch gesprochen, in seinem Tauschwert taxiert. „Das technokratische Paradigma ist […] heute so dominant geworden, dass es sehr schwierig ist, auf seine Mittel zu verzichten, und noch schwieriger, sie zu gebrauchen, ohne von ihrer Logik beherrscht zu werden. Es ist ‚kulturwidrig‘ geworden, wieder einen Lebensstil mit Zielen zu wählen, die zumindest teilweise von der Technik, von ihren Kosten und ihrer globalisierenden und vermassenden Macht unabhängig sein können. In der Tat neigt die Technik dazu, zu versuchen, dass nichts außerhalb ihrer harten Logik bleibt“ (Laudato si‘ 108).

Dieser technokratische Imperativ beherrscht heute nicht nur die Wirtschaft, sondern in weitem Maß auch Politik und Kultur. Bereits Papst Benedikt XVI. hat in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate davor gewarnt, dass das technokratische Denken einen fatalen Begriff des Fortschritts und der Entwicklung impliziert, und er hat diesem Irrweg sein eigenes Konzept von der ganzheitlichen bzw. integralen Entwicklung entgegen gehalten: „Es muss jedoch unterstrichen werden, dass ein Fortschritt allein unter wirtschaftlichem und technologischem Gesichtspunkt nicht genügt. Es ist notwendig, dass die Entwicklung vor allem echt und ganzheitlich ist“ (Caritas in veritate 23). Damals, vor zehn Jahren, hat noch nicht jeder die visionäre Kraft von Caritas in veritate erkannt. Speziell in Deutschland haben manche Kritiker Papst Benedikt XVI. vorgeworfen, er vertrete eine unrealistische Soziallehre. Sogar noch heute propagieren interessierte Kreise den Irrglauben, „dass die jetzige Wirtschaft und die Technologie alle Umweltprobleme lösen werden, ebenso wie man in nicht akademischer Ausdrucksweise behauptet, dass die Probleme des Hungers und das Elend in der Welt sich einfach mit dem Wachstum des Marktes lösen werden“ (Laudato si‘ 109). Doch die ökologische Krise, insbesondere die existentielle Bedrohung durch den Klimawandel, führen uns heute die Irrigkeit solcher Thesen unübersehbar vor Augen. Der Klimaforscher Schellnhuber betont, das klassische Entwicklungsparadigma sei „nicht nur falsch, sondern auch ungerecht, das heißt, es ist nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern auch moralisch verwerflich.“[17] Denn die ärmsten Länder und Regionen profitieren nicht nur am allerwenigsten von dem in den alten Entwicklungsmodellen propagierten globalen Wirtschaftswachstum, sondern sie leiden auch am meisten unter den dadurch hervorgerufenen „Nebenwirkungen“, von denen der Klimawandel die menschliche Zivilisation heute am stärksten bedroht. „Ob man die Welt zerstört oder von ihr zerstört wird, hängt also in hohem Maß davon ab, wo man sich auf der wirtschaftlichen Rangleiter befindet.“[18]

Deswegen hatte bereits Papst Benedikt vollkommen recht mit seiner visionären Forderung nach einem ganzheitlichen Entwicklungsbegriff. Das technokratische Denken mit seinen Lösungskonzepten ist gescheitert. Ein Paradigmenwechsel ist nicht mehr bloß ein ethisches Gebot, sondern eine existentielle Notwendigkeit, wenn die Menschheit überleben möchte. Ganz auf der Linie der Sozialverkündigung seines Vorgängers auf dem Stuhl Petri fordert Papst Franziskus deshalb eine ganzheitliche bzw. integrale Ökologie. Ein Teilaspekt von zentraler Bedeutung in diesem Konzept ist die Wirtschaftsökologie.

Integraler Humanismus und integrale Ökologie

Die Vision eines integralen Humanismus geht zurück auf Jacques Maritain (1882-1973), einen der großen christlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Der Schlüssel zu Maritains Denken liegt dabei in der schrecklichen Erfahrung, wie die totalitären Regime von Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert die Freiheit und Würde der Menschen in unvorstellbarer Weise mit Füßen getreten haben. Dieses Schlüsselerlebnis ist eine Gemeinsamkeit mit anderen großen Denkern dieser Generation. Auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sind in ihrer berühmten Dialektik der Aufklärung der Frage nachgegangen, wie die aufgeklärte Moderne in die schlimmste Barbarei hatte abgleiten können. Den tieferen Grund dafür erkannten sie in einem zu einem totalitären Soziotechnizismus gesteigerten Rationalismus, in dem jede Individualität und alle Qualitäten eliminiert wurden.

Maritain hatte eine ganz ähnliche Intuition und entwarf in seinem erstmals 1936 erschienenen Buch Humanisme Intégral sein Konzept eines christlichen, integralen Humanismus in Abgrenzung zu dem überkommenen Modell des anthropozentrischen, einseitig rationalistischen Humanismus.[19] Er ist damit zu einem Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils und auch der jüngeren Sozialverkündigung der Kirche geworden. So spricht die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums Gaudium et spes von einem „neuen Humanismus“ (Gaudium et spes 55), der sich von „einem rein innerweltlichen, ja religionsfeindlichen Humanismus“ (Gaudium et spes 56) unterscheidet. Es wäre aber ein Missverständnis zu glauben, es gehe der Kirche hierbei nur um die Verteidigung der Religion und ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung gegen einen sich säkular verstehenden Humanismus in der Tradition des rationalistischen Stranges der Aufklärungsphilosophie. Das Konzept des integralen Humanismus wendet sich vielmehr gegen jenen anthropologischen und ethischen Reduktionismus, der die rein instrumentelle Vernunft und das technokratische Paradigma hervorgebracht hat.

Gemäß dem Prinzip der Personalität als dem obersten Sozialprinzip der kirchlichen Soziallehre ist die freie Entfaltung der menschlichen Person der zentrale Gestaltungsmaßstab sozialer Ordnung – und zwar der Person in der Gesamtheit ihrer Anlagen, also in allen Dimensionen des Menschlichen. Es geht der Kirche und ihrer Soziallehre darum, zu der Entwicklung der menschlichen Kultur beizutragen, so „dass sie die volle menschliche Persönlichkeit harmonisch ausbildet und den Menschen bei den Aufgaben behilflich ist, zu deren Erfüllung alle, vor allem aber die Christen, in einer einzigen menschlichen Familie brüderlich vereint, berufen sind“ (Gaudium et spes 56).

Hier liegt der Ursprung des integralen Entwicklungskonzeptes, das seit über sechzig Jahren einen zentralen Platz in der Soziallehre der Kirche einnimmt. So schrieb schon Papst Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika Populorum progressio: „Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“ (Populorum progressio 14). Ein halbes Jahrhundert später hat Papst Benedikt XVI. betont, „dass die echte Entwicklung des Menschen einheitlich die Gesamtheit der Person in all ihren Dimensionen betrifft“ (Caritas in veritate 11). Ganz auf dieser Linie entfaltet Papst Franziskus das Konzept des integralen Humanismus in Laudato si‘ mit Blick auf die ökologische Krise, die er eben ausdrücklich nicht getrennt von der sozialen Frage betrachtet.

Deswegen ist es auch verkürzend, wenn von Laudato si‘ als einer bloßen „Umweltenzyklika“ gesprochen wird. Das Konzept der integralen Ökologie drückt vielmehr aus, dass die Fragen der Umweltschutzes und der Bewahrung der Schöpfung nicht getrennt von den übrigen sozialethischen Fragen betrachtet werden können, insbesondere der ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung der ganzen Menschheit. Dass dies die angemessene Betrachtungsweise ist, wird inzwischen auch von den führenden Wissenschaftlern so gesehen. Dabei hat gerade die Einsicht in die Zusammenhänge der ökologischen Krise dazu geführt, dass in den Naturwissenschaften ein Abschied von der rein instrumentellen Vernunft stattgefunden hat. Das integrale Verständnis, für das die Kirche von manchen Natur- und Sozialwissenschaftlern früher bisweilen mitleidig belächelt wurde, ist heute zum fortschrittlichen Wissenschaftsparadigma avanciert. Denn in der Tat können nur noch Ignoranten und Zyniker bestreiten, dass die Klimakrise wesentlich durch Entwicklungsmodelle verursacht worden ist, die einseitig auf ein rein technokratisch verstandenes Wirtschaftswachstum gesetzt haben.

Im Umkehrschluss besteht eine realistische Perspektive zur Lösung der gewaltigen ökologischen Herausforderungen nur dann, wenn tatsächlich alle relevanten Faktoren in die Analyse und in die Suche nach nachhaltigen Zukunftsmodellen einbezogen werden. Insbesondere „ist eine Wirtschaftsökologie notwendig, die in der Lage ist, zu einer umfassenderen Betrachtung der Wirklichkeit zu verpflichten“ (Laudato si‘ 141).

Integrale Wirtschaftsökologie

„Das Bündnis von Wirtschaft und Technologie klammert am Ende alles aus, was nicht zu seinen unmittelbaren Interessen gehört“ (Laudato si‘ 54). Das erste Ziel des integralen Ansatzes einer Wirtschaftsökologie ist es deshalb, diesen techno-ökonomischen Imperativ zu durchbrechen. Positiv formuliert, geht es darum, zu einem fundamental anderen Verständnis von Wirtschaft zu kommen, das nicht in den engen Grenzen der instrumentellen Rationalität und des rechnenden Denkens verbleibt, sondern ethisch gehaltvolle Konzepte von Entwicklung, Wachstum und Fortschritt impliziert.

In der traditionellen kirchlichen Soziallehre wird dieser sozialethische Anspruch in dem Prinzip des Gemeinwohls ausgedrückt. Daran hält auch Papst Franziskus fest, indem er feststellt: „Die ganzheitliche Ökologie ist nicht von dem Begriff des Gemeinwohls zu trennen“ (Laudato si‘ 156). Er zitiert aus Gaudium et spes die klassische Definition des Gemeinwohls als „die Ge-samtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ (Gaudium et spes 26).

Mit Blick auf die aktuelle Weltsituation konkretisiert der Heilige Vater dieses abstrakte ethische Prinzip und stellt dabei besonders drei Punkte heraus: Der Klimawandel ist eine existentielle Bedrohung für die ganze Menschheit. Deshalb kann, erstens, das Gemeinwohl heute nur noch in globaler Perspektive angemessen und hinreichend erfasst werden. Wer also die Ökonomie unter den Anspruch des Gemeinwohls stellen möchte, wird sich heute nicht mehr damit begnügen können, bloß die Interessen einer partikularen Gemeinschaft, etwa eines bestimmten Landes oder Volkes, zu berücksichtigen, sondern der muss zugleich das große Ganze, also das „Weltgemeinwohl“, in den Blick nehmen. Zweitens: Weil der Klimawandel droht, die Lebensgrundlagen der Menschheit dauerhaft zu gefährden, führt uns die gegenwärtige Krise außerdem vor Augen, dass ein hinreichender Begriff des Gemeinwohls heutzutage nicht nur die Belange aller derzeit lebenden Menschen zu berücksichtigen hat, sondern dass auch die vitalen Interessen der zukünftigen Generationen einzubeziehen sind. Genau das haben in den letzten Monaten in zahlreichen Ländern viele junge Menschen auf den Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung eindrucksvoll eingefordert. Drittens: Angesichts einer globalen Situation, „in der es so viel soziale Ungerechtigkeit gibt und immer mehr Menschen ausgeschlossen und ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt werden, verwandelt sich das Prinzip des Gemeinwohls als logische und unvermeidliche Konsequenz unmittelbar in einen Appell zur Solidarität und in eine vorrangige Option für die Ärmsten“ (Laudato si‘ 158).

Diese Option für die Ärmsten berührt aber nicht nur die Frage der Unterentwicklung bestimmter Länder und Weltregionen, sondern sie ist im Kontext der Klimafrage auch untrennbar verbunden mit der „Überentwicklung“ anderer Länder und Gesellschaftsgruppen – ein Begriff, den bereits Papst Johannes Paul II. 1987 in Sollicitudo rei socialis geprägt hat und den sowohl Papst Benedikt XVI. als auch Papst Franziskus aufgreifen.[20] Mit Blick auf die Konsum- und Überflussgesellschaften der reichsten Länder und Gesellschaftsschichten spricht Papst Franziskus ausdrücklich davon, dass man „angesichts des unersättlichen und unverantwortlichen Wachstums, das jahrzehntelang stattgefunden hat, auch daran denken [muss], die Gangart ein wenig zu verlangsamen, indem man einige vernünftige Grenzen setzt und sogar umkehrt, bevor es zu spät ist.“ Der Verschwendung durch die Reichsten stehen anderenorts jedoch nach wie vor extremer Mangel und existenzielle Not der Ärmsten gegenüber. „Darum ist die Stunde gekommen, in einigen Teilen der Welt einen gewissen Wachstumsrückgang zu akzeptieren und Hilfen zu geben, damit in anderen Teilen ein gesunder Aufschwung stattfinden kann“ (Laudato si‘ 93).

Das entspricht vollkommen der Analyse und den Forderungen der Klimaforscher. Noch einmal ein Zitat von Professor Hans Joachim Schellnhuber: „Das Klimaproblem hat so gut wie nichts mit ‚den zu Entwickelnden‘ zu tun, aber so gut wie alles mit ‚den Entwickelten‘ – oder sollen wir sagen: den Überentwickelten? – der Welt. […] Der Hebel für die Klimastabilisierung ist also nicht unten, sondern möglichst weit oben im sozialen Gefüge anzusetzen. Die ‚Topmilliarde‘ muss in allererster Linie umschwenken, wenn der Planet noch auf einen nachhaltigen Pfad finden soll.“[21]

Um dieses Ziel zu erreichen, kann es die Menschheit nicht bei kleinen Schritten belassen, sondern es ist ein fundamentaler Wandel erforderlich. Papst Franziskus möchte deswegen nicht bei Parolen wie jener vom „nachhaltigen Wachstum“ stehen bleiben. Vielmehr müssen die Begriffe von Wachstum, Entwicklung und Fortschritt grundlegend neu definiert werden: „Eine technologische und wirtschaftliche Entwicklung, die nicht eine bessere Welt und eine im Ganzen höhere Lebensqualität hinterlässt, kann nicht als Fortschritt betrachtet werden“ (Laudato si‘ 194). Um dieses Kriterium aber anwenden zu können, bedarf es im Sinne der integralen Wirtschaftsökologie einer wirklich ganzheitlichen Inblicknahme des Ökosystems und der verschiedenen sozialen Bezugswelten der Menschen.

Umkehr des Herzens und Transformation der sozialen Ordnung

Mit dem Titel seiner Enzyklika Laudato si‘ verweist Papst Franziskus auf den Sonnengesang, ein Gebet von Franz von Assisi. Er ist ein großer Verehrer dieses Heiligen, dessen Vorbild deutlich macht, „dass eine ganzheitliche Ökologie eine Offenheit gegenüber Kategorien verlangt, die über die Sprache der Mathematik oder der Biologie hinausgehen und uns mit dem Eigentlichen des Menschen verbinden“ (Laudato si‘ 11). Eine andere Heilige, die Papst Franziskus in seiner Enzyklika nennt, ist Therese von Lisieux, die durch ihren „kleinen Weg“ der Liebe zeigt, dass eine integrale Ökologie „auch aus einfachen, alltäglichen Gesten“ Gestalt gewinnt, „die die Logik der Gewalt, der Ausnutzung, des Egoismus durchbrechen“ (Laudato si‘ 230).

Zugleich betont der Heilige Vater, dass die gegenwärtigen Herausforderungen multilaterale Anstrengungen im politischen Bereich erfordern: „Wir brauchen […] letztlich eine Vereinbarung über die Regelungen der Ordnungs- und Strukturpolitik für den gesamten Bereich des sogenannten ‚globalen Gemeinwohls‘“(Laudato si‘ 174). Auch Papst Franziskus begreift die kirchliche Soziallehre unmissverständlich als eine Ethik sozialer Ordnung.[22] Die gewaltige Aufgabe der Bewältigung der weltweiten sozio-ökologischen Krise und besonders des Klimawandels braucht beides: den Gesinnungswandel und den Strukturwandel, die Umkehr des Herzens und die Transformation des globalen Wirtschaftssystems – und beide Dimensionen bedingen einander.

Auf der Amazonas-Synode versuchen wir, die geschilderte integrale Perspektive mit Blick auf diese bestimmte Weltregion und ihre konkrete Situation einzunehmen. Die dramatischen Waldbrände im Vorfeld der Synode empfinde ich wie eine Mahnung, dass die Menschheit sich endlich als eine globale Gemeinschaft begreifen und Solidarität üben muss. Wenn wir die dortige Natur und die Menschen ihren Nöten überlassen, besiegeln wir auch unser eigenes Schicksal. In den sozialen, ökologischen und auch in den kirchlich-pastoralen Herausforderungen in der Amazonas-Region zeichnen sich wie unter einem Brennglas Schicksalsfragen ab, die die ganze Menschheit existenziell betreffen. Es ist durchaus nicht übertrieben zu sagen, dass sich die Zukunft der Menschheit (auch) in Amazonien entscheidet.

Anmerkungen

[1]   Vgl. Cláudio C. Maretti, Amazonien: Es gibt noch Hoffnung, wenn wir alle das Richtige tun!, in: Claude Martin, Endspiel. Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können, München 2015, 223-237, hier: 225.

[2]   Vgl. Hans Joachim Schellnhuber, Selbstverbrennung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, 3. Aufl., München 2015, 495.

[3]   Ebd., 495 f.

[4]   Siehe dazu und zum Folgenden Maretti, a.a.O., 226-233.

[5]   Antonio Spadaro SJ, Unterwegs zur Synode über Amazonien. Interview mit Kardinal Cláudio Hummes OFM, in: Stimmen der Zeit 237 (2019), 591-603, hier: 596.

[6]   Vgl. Maretti, a.a.O., 230.

[7]   Ebd., 235.

[8]   Vgl. Claude Martin, Endspiel. Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können, München 2015, 118.

[9]   Ebd., 116.

[10] Siehe dazu und zum Folgenden ebd., 116-126.

[11] Vgl. ebd., 120 f.

[12] Siehe näher dazu aus dieser Reihe: Gerhard Kruip, Darf man noch Fleisch essen? (Kirche und Gesellschaft, Heft 440); Köln 2017.

[13] Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würzburg 1950, 65 u. 66 f.

[14] Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, Hamburg 2009, 21.

[15] Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1981, 522.

[16] Vgl. Peter Schallenberg/Arnd Küppers, Marktverantwortung von Konsumenten – grundsätzliche ethische Erwägungen, in: Aufderheide, Detlef/Dabrowski, Martin (Hrsg.), Markt und Verantwortung. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven, Berlin 2015, 107-137, hier: 130.

[17] Schellnhuber, a.a.O., 700.

[18] Ebd.

[19] Siehe dazu Jacques Maritain, Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950.

[20] Vgl. Sollicitudo rei socialis 28, Caritas in veritate 22, Laudato si‘ 109.

[21] Schellnhuber, a.a.O., 701.

[22] Siehe näher dazu aus dieser Reihe: Arnd Küppers, Die Ordnungsethik der katholischen Soziallehre (Kirche und Gesellschaft, Heft 436); Köln 2017.

 

Der Verfasser

Peter Kardinal Turkson ist in der Römischen Kurie Präfekt des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen.