Lars Schäfers | 21. Februar 2020

Gute Erwerbsbiografie – gute Rente!?

Sozialethische Überlegungen

Auch in diesem neuen Jahr(-zehnt) wird die Frage nach den nötigen Reformen des Systems der Alterssicherung in Deutschland drängend bleiben. Im März soll es endlich den Bericht der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ geben, der der Politik aufzeigen soll, wie die Fortentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung und der beiden weiteren Altersvorsorgesäulen ab dem Jahr 2025 aussehen soll. Ernüchternderweise hat ein Mitglied dieser Kommission bereits die Erwartungen gedämpft: „Erwarten Sie besser gar nichts“, lautet dessen Empfehlung. Droht also die nächste Renten-Enttäuschung nach der in ihrer jetzigen Gestalt völlig ungerechten und ineffektiven Grundrente, wie es jüngst der langjährige Geschäftsführer der Deutschen Rentenversicherung, Prof. Franz Ruland, erneut herausgestellt hat?

Unabhängig davon, was wir von dieser Kommission zu erwarten haben, und jenseits aller Schwierigkeiten politisch geeignete und durchsetzbare Reformansätze zu finden, die die Alterssicherung zukunfts- und altersarmutsfest machen, darf aus sozialethischer Sicht eine zentrale Perspektive jedenfalls nicht fehlen, die in den politischen und medialen Debatten noch zu wenig vorkommt: Die Ausgestaltung der gesetzlichen Rentenversicherung beruht bis heute auf der Normalitätsfigur der von Ausbildungsende bis Renteneintritt kontinuierlichen, unbefristeten, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung mit existenzsichernden (Tarif-)Entgelten. Diese Normalitätsannahme wurden jedoch durch den sozialen Wandel in der Gesellschaft und durch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zunehmend in Frage gestellt. Während das Normalarbeitsverhältnis durch Entstandardisierung und Diskontinuitäten teilweise an Bedeutung verliert, hält sich die Normalitätsfigur der Normalfamilie im Sinne des modifizierten (männlichen) Ernährermodells nach wie vor: erste Erwerbsphase, Erwerbsunterbrechung eines (meist des weiblichen) Elternteils während der innerfamilialen Erziehungsphase sowie anschließend im besten Fall dessen (partielle) Reintegration in den Arbeitsmarkt.

Der tendenzielle Bedeutungsverlust der ersten Normalitätsfigur sowie die noch immer hohe Bedeutung der zweiten haben jedoch beide negative Auswirkungen auf die Höhe der Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung, da die Berechnungsgrundlagen der Rentenkasse noch immer auf den 45 Jahren lückenloser „Normalarbeit“ basieren, die von immer weniger Menschen erreicht werden können oder wollen. Der skizzierte Wandel der Erwerbsbiographien führt demnach zu sinkenden Zahlbeträgen der gesetzlichen Rente, einer zunehmenden Ungleichheit der Rentenanwartschaften und der zunehmenden Gefahr gruppenspezifischer Altersarmut. Verstärkt wird diese Entwicklung zudem durch die allgemeine Absenkung des Rentenniveaus. Die Angst vor Altersarmut ist aufgrund alledem auch in der Mittelschicht nicht ganz unberechtigt. Die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung ist also eine der drängendsten aktuellen Gerechtigkeitsfragen, da sie für die meisten noch immer die mit Abstand wichtigste der drei Säulen der Alterssicherung ist.

Es zeigt sich der Reflexionsbedarf darüber, wie die Alterssicherung angesichts der veränderten Erwerbs- und Lebensverläufe auszugestalten ist, und zwar eng verbunden mit der Frage, was eine „Gute Erwerbsbiografie“ als Weiterentwicklung des Ideals der „Guten Arbeit“ heute ausmacht und was die passenden sozial- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen für die „Normalarbeitsverhältnisse“ der 2020er Jahre sind, zu denen auch Unterbrechungen wegen Erziehung, Pflege, Weiterbildung oder Selbstständigkeit dazugehören dürfen und einer passgenauen sozialen Absicherung bedürfen. Eine „Gute Erwerbsbiografie“ definiert sich jedoch nicht allein durch ihren „Rentenwert“: Ein anschauliches Leitbild ist jenes der „atmenden Lebensläufe“, das von katholischen Sozialverbänden genauso vertreten wird wie von der Gesellschaft für Zeitpolitik. Die beiden Leitbilder der „Guten Erwerbsbiografie“ und der „atmenden Lebensläufe“ bedürfen jedoch auch ein systematisch reflektiertes Fundament, eine Grundorientierung. Gerade deshalb ist es an der Zeit für eine fundierte Grundlegung einer Sozialethik der Alterssicherung, in deren Rahmen auch die bewährten Prinzipien der katholischen Soziallehre, Personalität, Subsidiarität und Solidarität, dem Sachbereich gemäß wieder neu auszubuchstabieren und auszutarieren sind. Ein besonders aktuelles wie gesellschaftsrelevantes Forschungsdesiderat.

Der Verfasser

Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.