Lars Schäfers | 07. Januar 2020
Zur Aktualität der katholischen Soziallehre
In den Vereinigten Staaten wird die Soziallehre der katholischen Kirche gerne als „the church’s best kept secret“, als das „best gehütetste Geheimnis der Kirche“ bezeichnet. Und tatsächlich hatte die Soziallehre in den USA nie die gesellschaftliche und politische Bedeutung wie in Deutschland. Vielmehr war besonders die erste Dekade der Bundesrepublik eine regelrechte Blütezeit der Sozialethik beider Konfessionen. Katholische Soziallehre in der jungen Bundesrepublik, das waren Vordenker wie Oswald von Nell-Breuning, Gustav Gundlach und Wilfrid Schreiber, das waren die Kölner Erzbischöfe Josef Frings und Joseph Höffner, das waren Politiker wie Konrad Adenauer und Johannes Albers – Diese wenigen Beispiele, deren Aufzählung man beliebig fortsetzen könnte, zeigen: Katholiken haben an der Architektur des jungen Staates maßgeblich mitgebaut. Besonders unser Sozialstaat ist in weiten Teilen geronnene Soziallehre, mit Recht kann er trotz aller verbleibenden Defizite daher auch als Institutionalisierung des barmherzigen Samariters (Peter Schallenberg) bezeichnet werden. Aber auch die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft als ethische Bändigung des Kapitalismus wurde damals vom Sozialkatholizismus mitgeprägt, sodass der Publizist Ralf Dahrendorf mit Recht resümiert: „wer in Deutschland von sozialer Marktwirtschaft spricht, […] meint Ludwig Erhard plus katholische Soziallehre“.
Und heute? Wir leben in einer Zeit beschleunigter Wandlungsprozesse; wir erleben soziale, ökologische und kulturelle Umbrüche. Wir leben in einer enorm pluralisierten, säkularisierten Gesellschaft, in der die Stimme der Kirchen nur noch eine von vielen ist. Das klassische katholische Milieu als einst verlässlicher gesellschaftlicher Resonanzraum der Soziallehre und Basis ihrer politischen Wirksamkeit existiert so nicht mehr. Kann die auf der kirchlichen Sozialverkündigung und der wissenschaftlichen Sozialethik gründende katholische Soziallehre dann hier und heute überhaupt noch eine ernstzunehmende Orientierung bieten? Erschallen ihre leiser gewordenen Töne im vielstimmigen Konzert der verschiedenen Stimmen in der Gesellschaft wirklich noch so wohlklingend, dass auch Kirchenferne ihnen lauschen wollten?
Die katholische Soziallehre als ein „Gefüge von offenen Sätzen“
Der Sozialethiker Hermann Josef Wallraff bezeichnete die katholische Soziallehre besonders treffend als ein „Gefüge von offenen Sätzen“. Sie ist demnach keine politische Ideologie und keine Blaupause für die perfekte Gesellschaft, die es jenseits von Eden nie geben wird, sondern eine Baustelle, auf der immer gearbeitet wird. Sie ist auch kein „,dritter Weg‘ zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus“, wie es Papst Johannes Paul II. in seiner Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ betont hat. „Ihr Hauptziel ist es“, so der Papst weiter, die komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeiten „zu deuten, wobei sie prüft, ob diese mit den Grundlinien der Lehre des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Berufung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten der Christen eine Orientierung zu geben. Sie gehört daher nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie“ (SR, Nr. 41).
Gerade deshalb ist die Soziallehre als Gefüge offener Sätze wirklichkeitstauglicher als alle politischen Ideologien, die als sogenannte „große Erzählungen“ nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts ohnehin zu Recht unter dem Generalverdacht der Inhumanität stehen. Die Kirche hat zudem gelernt, dass sie in politischen Auseinandersetzungen dann Gehör finden wird, wenn sie die grundlegenden Diskursregeln der pluralistischen Moderne bejaht. Dazu gehört auf der praktischen Ebene, dass sie nicht allein hohe Gesinnungsethik vertritt, sondern ebenso die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kompromisse berücksichtigt, die die Politik als Kunst des jeweils Möglichen zu sondieren hat. Dazu gehört auf der wissenschaftlichen Ebene, dass die Positionen der Soziallehre nur als Ergebnis eines interdisziplinären Dialogs zwischen Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und weiteren Bezugsdisziplinen erwachsen können. Die Soziallehre ist daher immer dynamisch, sie ist lebendig – man darf von ihr daher keine festgezurrten Antworten, gar eine überzeitlich-starre Sozialdogmatik erwarten, auch wenn bisweilen versucht wurde, eine solche auf ihrem Fundament zu zimmern. Deshalb ist es ihre Methode, ganz im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils die „Zeichen der Zeit“ als die je aktuellen wesentlichen Fragen des menschlichen Zusammenlebens mithilfe des Dreischritts „Sehen – Urteilen – Handeln“ in den Blick zu nehmen.
Dank dieses anti-ideologischen Charakters der Soziallehre und ihrer Orientierung an aktuellen Zeitfragen, auf die sie nicht mit christlichen Glaubenssätzen, wohl aber – auf ihrer theologischen Ursprungsquelle gegründet – mit Vernunftargumenten antwortet, kann sie deshalb auch heute und auch Nichtchristen Impulse und Provokationen für eine gerechte Gestaltung der Gesellschaft anbieten. Es gilt nämlich Genese und Geltung katholischer Soziallehre und Sozialethik zu unterscheiden: Wenn eine sozialethische Positionierung auf Vernunftargumenten basiert und mit rationalem Wirklichkeitsbezug plausibilisiert wird, kann sie ihren Anspruch auf Geltung auch denjenigen verständlich machen, die ihre religiöse, biblische und theologische Genese nicht teilen. Daher wendet sich die kirchliche Sozialverkündigung seit der Enzyklika „Pacem in terris“ von Johannes XXIII. auch ausdrücklich „an alle Menschen guten Willens“ und seit Papst Franziskus mit seiner Enzyklika „Laudato si‘“ noch weiter gefasst „an jeden Menschen […], der auf diesem Planeten wohnt“ (LS Nr. 3).
Das bedeutet indes nicht, dass die mit Vernunftargumenten operierende Soziallehre unverbunden neben der Glaubenslehre stünde. Der Schatz des Glaubens birgt nämlich angefangen vom Schöpfungsauftrag der Genesis über die Frage Gottes an den Menschen: „Wo ist dein Bruder Abel?“ bis hin zum Gebot der Nächstenliebe nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters immer auch eine soziale Dimension. Diese leitet Christen dazu an, zusammen mit allen Menschen guten Willens für eine gerechte Gesellschaft und eine intakte Umwelt Sorge zu tragen. Gerade der einzelne Christ, der kraft Taufe und Firmung Mitverantwortung in der säkularen Gesellschaft trägt, sei es in der Politik, in der Wirtschaft, in Verbänden oder wo auch immer, kann dazu beitragen, dass die katholische Soziallehre aktuell bleibt. Dennoch gilt, und zwar ungeachtet ihrer hierzulande beachtlichen historischen Wirkmächtigkeit, nämlich vielmehr besonders für die Zukunft: Soziallehre ohne Sozialkatholizismus im Sinne politisch und sozial engagierter Christen wird letztlich zu einer toten Lehre.