Lars Schäfers | 16. Juni 2021

An der Architektur des Friedens bauen

Die Friedensethik von Fratelli tutti

Lange war die christliche Friedensethik davon ausgegangen, dass es so etwas wie einen „gerechten Krieg“ gäbe. Das aber stand seit jeher in Spannung zur biblischen Friedensvision von den Schwertern, die zu Pflugscharen umgeschmiedet werden bis hin zum „Selig sind, die Frieden stiften“ des Friedensfürsten Jesus. Waffensegnungen, Feldmessen, Zwangsmissionierung, Kreuzzüge und überhaupt jegliche religiös gerechtfertigte Gewalt gelten Christentumskritikern heutzutage zu Recht als Steine des Anstoßes. Die Frage ist: Wieviel Gewalt verträgt das Christentum? Die Überwindung von Gewalt erscheint eigentlich als eine notwendige Konsequenz aus dem Glauben an den Gott, der dreifaltig und in sich Liebe ist. Friedensethik betrifft das Herz des Christentums.

Auch Papst Franziskus sieht das so – das friedensethische Kapitel seiner jüngsten Sozialenzyklika Fratelli tutti ist daher eine echte Perle. Hier schreibt er in der Tradition katholischer Soziallehre die erneuerte Friedensethik seit der Enzyklika Pacem in terris von Papst Johannes XXIII. von 1963 pointiert fort, die damals vor dem Horizont der Schrecken der Weltkriege und angesichts der realen Gefahr atomarer Totalvernichtung während des Kalten Krieges veröffentlicht wurde.

Der Papst weiß, dass der Weg zum Frieden unter Menschen und Staaten immer ein Prozess bleibt, dass am Frieden immer und überall gebaut werden muss: „Es gibt eine ,Architektur‘ des Friedens, zu der die verschiedenen Institutionen der Gesellschaft je nach eigener Kompetenz beitragen; doch es gibt auch ein ,Handwerk‘ des Friedens, das uns alle einbezieht“ (Fratelli tutti Nr. 231). Der Friedensbau wird jedoch immer wieder einstürzen ohne „Gerechtigkeit“ und „Versöhnung“ als seine tragenden Säulen. Gerechtigkeit schafft Frieden. Friede ist nach biblischer Überzeugung Frucht der (sozialen) Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17), die nichts weniger als ein Herzensthema Papst Franziskus‘ ist. Frieden ist folglich immer dann gefährdet, wenn der menschlichen Person das, was ihr aufgrund ihres Menschseins zusteht, nicht gegeben und ihre Würde nicht respektiert wird: „Wer Frieden in eine Gesellschaft bringen will, darf nicht vergessen, dass Ungleichheit und eine fehlende ganzheitliche Entwicklung des Menschen eine Friedensbildung unmöglich machen“ (Fratelli tutti Nr. 235).

Der Frieden wird überdies zunehmend auch von der ökologischen Krise und vom Klimawandel mit seinen vielfältigen negativen Folgen bedroht. Friedensethik und Umweltethik müssen darum miteinander verbunden werden. Bereits Papst Johannes Paul II. hat seine Botschaft zur Feier des Weltfriedenstags 1990 mit dem Titel „Friede mit Gott, dem Schöpfer, Friede mit der ganzen Schöpfung“ versehen. Umweltprobleme führen zu menschlichem Leid und zu Konflikten; sie sind Herausforderungen der Gerechtigkeit – bereits in der Enzyklika Laudato Si‘ mahnte Papst Franziskus daher „die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“ (Laudato si‘ Nr. 49). Frieden ist eben nur als gerechter Frieden ein echter Frieden.

Die Lehre von einem „gerechten“ Krieg galt allerdings in der christlichen Tradition lange als ethischer Kompromiss und ultima ratio nach strengen Kriterien, wenn das Ziel der Frieden bleibt. Es war jedoch zu oft ein stinkend fauler Kompromiss, insofern christliche Friedensethik durch großzügige Interpretation dieses Lehrstücks im Laufe der Geschichte immer wieder zur Kriegsethik degenerierte. Der Papst ist hier ganz deutlich und auch kritisch gegenüber der überlieferten Lehre: „So entscheidet man sich dann leicht zum Krieg unter allen möglichen angeblich humanitären, defensiven oder präventiven Vorwänden […]. In der Tat gaben in den letzten Jahrzehnten alle Kriege vor, ,gerechtfertigt‘ zu sein. Der Katechismus der Katholischen Kirche spricht von der Möglichkeit einer legitimen Verteidigung mit militärischer Gewalt, was den Nachweis voraussetzt, dass einige ,strenge Bedingungen‘ gegeben sind, unter denen diese Entscheidung ,sittlich vertretbar‘ ist. Aber es ist leicht, in eine allzu weite Auslegung dieses möglichen Rechts zu verfallen“ (Nr. 258). Im Bauplan der auf dieser Lehre gezimmerten „Friedens“-Architektur stimmte also schon das Fundament nicht.

Papst Franziskus steht in Fratelli tutti also ganz auf der Linie einer Kernsanierung der christlichen Friedensethik und damit des lehramtlichen Leitbildwechsels vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“. „Nie wieder Krieg!“, schreibt Papst Franziskus (Nr. 258), wie es schon Papst Paul VI. in seiner Rede vor der UNO 1965 medienwirksam und vielzitiert ausgerufen hatte. Franziskus meint dabei auch: „Nie wieder gerechter Krieg!“ Zugleich aber weiß der Papst um die heutigen weltweiten Konflikte als einem „Weltkrieg in Stücken“ (Nr. 259). Christliche Friedensethik darf daher kein naiver Radikalpazifismus sein, der Kriegen und Gewalt freien Lauf lässt. Wer Unrecht erleidet, muss bisweilen auch im Sinne von Notwehr um Gerechtigkeit kämpfen. Auch Papst Franziskus weiß, dass wahre Versöhnung dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen darf, sondern manchmal erst in einem Konflikt erreicht wird (Nr. 244). Die Notwendigkeit von Verteidigung rechtfertigt die Existenz von Streitkräften für den Dienst am Frieden, denn angegriffene Staaten haben das Recht und die Pflicht, sich als letztes Mittel auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Immer aber muss die Versöhnung das Ziel sein, nicht nur im Zwischenmenschlichen, sondern auch zwischen Gruppen, Gesellschaften, Staaten. Wegen dieser sozialethischen Bedeutung von Versöhnung plädiert der Sozialethiker Markus Vogt dafür, Versöhnung in die Reihe der Prinzipien der Soziallehre der Kirche neben Personalität, Solidarität und Subsidiarität und Gemeinwohl aufzunehmen. Diese Idee würde bei Papst Franziskus sicher Anklang finden, ist Versöhnung und mit ihr Vergebung doch auch ein zentrales christlich-individualethisches Prinzip, um jeden Herzensgroll gegen einen anderen Menschen als „ein Stück Krieg“ (Nr. 243) zu besiegen.

Ethische Prinzipien stiften zwar Orientierung, liefern aber keine politisch umsetzbaren Lösungen für konkrete Probleme und Sachfragen. Die Lehre vom „gerechten Krieg“ hat also ausgedient, nicht aber die Suche nach Kriterien, unter welchen Umständen es definitiv nicht ohne Gewalt geht. Solange der Mensch zu Sünde und zum Bösen neigt, bleibt es bei dieser Spannung, die auch christliche Friedensethik aushalten und nüchtern reflektieren muss. Der „Friede Christi“ (vgl. Kol 3,15) ist in der theologischen Deutung nunmal „nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Papst Franziskus aber stellt in Fratelli tutti klar, dass Christinnen und Christen auf Erden solange ehrgeizige Friedensarchitekten mit den bevorzugten Werkzeugen der Politik und des Rechts bleiben müssen, bis der Bau eines gerechten Friedens als immerwährender Frieden spätestens in der kommenden Welt festzementiert wird.

Der Verfasser

Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.