Arnd Küppers | Juni 2023

Christlicher Humanismus

Zum fünfzigsten Todesjahr von Jacques Maritain

Bei dem feierlichen Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 8. Dezember 1965 auf dem Petersplatz händigte Papst Paul VI. die Botschaft des Konzils „An die Intellektuellen und Wissenschaftler“ an den französischen Philosophen Jacques Maritain aus. Diese Geste war Ausdruck der besonderen geistigen Beziehung zwischen diesen beiden Männern, aber auch sichtbares Zeichen der großen Bedeutung, die Maritain für das Konzil gehabt hatte. Die nur an ihn persönlich gerichteten Worte des Papstes bei der Übergabe des Dokuments hat der damals bereits 83jährige seinem Tagebuch anvertraut: „Die Kirche ist Ihnen dankbar für die Arbeit Ihres ganzen Lebens.“[1]

Der 1882 in Paris geborene Maritain war schon in den Zwanzigerjahren zu einem der bekanntesten katholischen Intellektuellen Frankreichs aufgestiegen. Seine Schriften fanden über sein Heimatland hinaus große Beachtung. Die italienische Übersetzung seines 1925 erschienenen Buches Trois réformateurs: Luther, Descartes, Rousseau gab Giovanni Battista Montini, eben jener spätere Papst Paul VI., heraus. Zu dieser Zeit stand Maritain noch der ultranationalistischen und monarchistischen Action française nahe. Angesichts von Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus wurde er allerdings in den Dreißigerjahren zu dem entschiedensten Verfechter der Demokratie und zum Vordenker der Idee universaler Menschenrechte.

Maritain war der führende Kopf des christlichen Personalismus, einer lose zusammenhängenden Bewegung von Theologen, Philosophen und politischen Aktivisten, deren Gemeinsamkeit darin lag, dass sie in Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien für die – explizit christlich begründete –Menschenwürde einstanden. Dadurch inspirierte Maritain die Gründung christdemokratischer Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg. Insofern entfaltete sein Werk nicht nur kirchlich, sondern auch politisch eine große Wirksamkeit – und das, obwohl er sein Leben lang eine misstrauische Distanz zur Politik wahrte, genauer gesagt: zur Parteipolitik. Diese Distanz entsprang weniger seiner Angst vor persönlicher Vereinnahmung als vielmehr der Befürchtung, dass die soziale Dimension der christlichen Botschaft verschattet werden könnte, wenn sie in die parteipolitischen Auseinandersetzungen gezogen würde. Man kann mit Blick auf Maritain sogar sagen: Selten in der Geschichte hat ein in Fragen der Politik derart skrupulöser Mensch einen so großen politischen Einfluss ausgeübt.

Wer sich mit Maritains Biographie beschäftigt, gewinnt den Eindruck, dass er mehrfach das politische Lager gewechselt hat. Manche Zeitgenossen haben ihm deshalb Opportunismus vorgeworfen. Bei genauerem Hinsehen ist jedoch erkennbar, dass diese Brüche mit jener eigentümlichen Distanz zum Politischen zu tun haben. Das System der Politik dreht sich um Macht, in der Religion geht es um (Glaubens‑) Wahrheit. In diesem Spannungsfeld ging es Maritain immer darum, den Glauben und dessen Wahrheit zu verteidigen – sei es gegen Angriffe von Seiten der Macht oder gegen Vereinnahmung durch die Macht.

Konversion(en)

Maritain wurde 1882 in Paris als Spross einer angesehenen evangelischen Familie geboren, die fest in den republikanischen und antiklerikalen Traditionen der Dritten Republik verwurzelt war. Sein Großvater mütterlicherseits war Jules Favre, der am 4. September 1870 gemeinsam mit Léon Gambetta die Republik ausgerufen hatte.

Als Schüler und Student sympathisierte Maritain mit dem Sozialismus, aus dieser Zeit stammen auch deftige antiklerikale Aussagen.[2] In der Dreyfus-Affäre engagierte er sich, genau wie sein knapp zehn Jahre älterer Freund Charles Péguy, als leidenschaftlicher Verteidiger von Alfred Dreyfus. Der jüdische Hauptmann Dreyfus war, begleitet von antisemitischen Polemiken der nationalistischen Presse, Ende 1894 auf der Grundlage einer – gelinde gesagt – äußerst dünnen und zweifelhaften Beweislage von einem Militärgericht wegen Spionage zu lebenslanger Haft und Verbannung verurteilt worden. Eigene Nachforschungen von Dreyfus̕̕ Familie sowie später auch neue Erkenntnisse des Militärgeheimdienstes deuteten allerdings immer stärker auf ein Fehlurteil hin. Bereits im Sommer 1896 hatte der Geheimdienst sogar erhebliche Verdachtsmomente gegen den wirklichen Spion zusammengetragen.

Trotzdem weigerte sich der Generalstab, den Prozess gegen Dreyfus neu aufzurollen. Der Fall war politisch und gesellschaftlich so aufgeladen worden, dass man bei dem Eingeständnis eines Fehlurteils eine irreparable Beschädigung des Rufs der Militärführung und der gesamten politischen Rechten befürchtete. Dreyfus musste schuldig sein. Was anfänglich noch wohlwollend als Justizirrtum bezeichnet werden konnte, nahm auf diese Weise immer mehr den Charakter einer glasklaren Rechtsbeugung an. Dadurch allerdings wurde die Causa Dreyfus noch viel stärker aufgeladen. Die öffentlichen Auseinandersetzungen schaukelten sich immer weiter hoch und spalteten Frankreich in zwei unversöhnliche Lager. Für oder gegen Dreyfus zu sein, hieß: ein Patriot oder ein Verräter zu sein, für oder gegen die Republik zu sein. Die Gründung der ultranationalistischen und monarchistischen Action française im Jahr 1898 war eine direkte Reaktion auf die Dreyfus-Affäre.

Die Auseinandersetzung führte auch dazu, dass die von Papst Leo XII. unterstützte Politik des „Ralliement“ („Zusammenschluss“) scheiterte, die die Aussöhnung und Vereinigung der französischen Katholiken mit der Dritten Republik verfolgt hatte.[3] Zwar übten sich die Bischöfe in der Dreyfus-Affäre mehrheitlich in Zurückhaltung, aber sehr viele Priester und konservative Laien exponierten sich auf der Seite der nationalistischen Kräfte. Katholische Zeitungen wie die auflagenstarke La Croix waren Stimmführer in der antisemitischen und antiparlamentarischen Hetze und gaben damit denen die besten Argumente an die Hand, die die katholische Kirche als Speerspitze der Republikfeinde darstellten. Das bereitete den Boden dafür, dass die radikale Linke nach einem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen 1902 scharfe antiklerikale Gesetze durchsetzen konnte: noch im selben Jahr wurden die 3.000 kirchlichen Schulen in Frankreich geschlossen, 1903 wurden die Ordensgemeinschaften verboten, und 1904 brach Frankreich die diplomatischen Beziehungen zum Heiligen Stuhl ab.[4] Mit dem „Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat“ von 1905 wurde nicht nur die strikte Laizität in Frankreich etabliert, sondern in dem Gesetz enthaltene vereinsrechtliche Vorschriften zur Kirchenorganisation verfolgten auch das Ziel, die hierarchische Struktur und die bischöfliche Amtsgewalt in der katholischen Kirche zu eliminieren.[5]

In diesem Angriff auf die individuelle und kollektive Religionsfreiheit erkannten Péguy und Maritain eine missbräuchliche politische Instrumentalisierung der Dreyfus-Affäre, und sie brachen mit der Linken. Diesem Bruch vorausgegangen war freilich eine spirituelle Annäherung an die katholische Kirche. Als Student an der Sorbonne verliebte sich Maritain 1901 in Raïssa Oumansoff, die einer jüdischen Familie russischer Immigranten entstammte. Ihre Beziehung zeichnete sich durch eine lebenslange, tiefe geistige und seelische Verbundenheit aus. Die beiden Frischverliebten teilten ein Gefühl spiritueller Leere und eine Sehnsucht nach Sinn. Fündig wurden sie in der anti-positivistischen und anti-materialistischen Lebensphilosophie von Henri Bergson, dessen Vorlesungen am Collège de France sie gemeinsam mit ihrem Freund Péguy besuchten. Bergsons Philosophie fand großen Widerhall in Kreisen des Renouveau catholique, der katholischen Erneuerungsbewegung in Frankreich, und beeinflusste auch Maritain, Oumansoff und Péguy in diese Richtung. Entscheidend aber war für Jacques und Raïssa Maritain, die beiden hatten am 26. November 1904 geheiratet, die Begegnung mit dem Schriftsteller und kämpferischen Katholiken Léon Bloy. Als am 11. Juni 1906 Jacques Maritain zum Katholizismus konvertierte und Raïssa sich taufen ließ, war Bloy ihr Pate.[6]

Seine theologisch-philosophische Heimat fand Maritain schließlich, als er 1910,  dem Beispiel seiner Frau Raïssa folgend, mit dem Studium der Summa theologiae Thomas von Aquins (1224/25-1274) begann.[7] Diese wissenschaftliche Umorientierung entsprach der Konversion der Maritains zum Katholizismus. In der Enzyklika Aeterni Patris hatte Papst Leo XIII. 1879 eine Erneuerung der christlichen Philosophie im Geist der Lehre des Heiligen Thomas gefordert. Der Rückgriff auf die mittelalterliche Hochscholastik setzte dabei bewusst einen Kontrapunkt zu der modernen Philosophie und deren diversen „Irrtümern“ des Positivismus, Subjektivismus und Relativismus. Der von der Kirche verurteilte „Modernismus“ sollte auch auf dem Feld der Wissenschaft mit einem dezidierten Gegenparadigma bekämpft werden. Diesen Kampf machte sich Maritain zu eigen. Er wurde ein „geradezu […] wütender und fanatischer Thomist“[8]. Das bekam auch sein früherer Lehrer und Freund Henri Bergson zu spüren, dessen Philosophie Maritain in seinem ersten großen Buch, dem 1911 bis 1913 in drei Teilen erschienenen Werk La Philosophie Bergsonienne, scharf kritisierte.

Inwieweit dieses Buch dazu beigetrug, dass Bergsons Werk L’évolution créatrice („Schöpferische Evolution“) 1914 vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde, ist unklar. Keine Zweifel bestehen indes, dass Maritain nach seiner Konversion zunehmend in extrem konservative, um nicht zusagen: reaktionäre katholische Kreise geriet. Namentlich der Dominikanerpater Humbert Clérissac, der ab Ende 1908 zum geistlichem Begleiter der Maritains wurde, übte einen maßgeblichen Einfluss aus. Clérissac war die treibende Kraft hinter Maritains Angriff auf Bergson, und er war auch derjenige, der Maritain in Richtung der antirepublikanischen Action française lenkte.[9]

Vorrang des Spirituellen vor dem Politischen

Der proselytische Eifer Maritains irritierte nicht nur Familienmitglieder, allen voran seine Mutter Geneviève Favre, sondern stieß auch manche seiner bisherigen Weggefährten und Freunde ab. Mit Charles Péguy kam es bereits 1911 zum Bruch.[10]

Alles das ist nur erklärlich im Kontext der tiefen Spaltung Frankreichs durch die Dreyfus-Affäre und die daraus resultierenden stürmischen Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und der Dritten Republik, im Vergleich zu denen der Kulturkampf im deutschen Kaiserreich wie ein laues Lüftchen erscheint. Ein kirchentreuer Katholik zu sein, hatte nach dem Scheitern des Ralliement und nach der Rückkehr der republikanischen Regierung zu ihrer antiklerikalen Politik für Maritain und für viele seiner Zeitgenossen die notwendige Konsequenz, gegen die laizistische Republik zu sein; umgekehrt war ein überzeugter Republikaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts stramm antiklerikal. Eine vermittelnde Position hatte in dieser aufgeheizten Atmosphäre keine Chance.

Diese Gemengelage erklärt auch die enge Verbindung zwischen dem französischen Katholizismus und der Action française. Die ultranationalistische Gruppierung verdankte ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluss zu einem guten Teil ihrem engen Rückhalt im Klerus bis hinauf in den französischen Episkopat.[11] Die Action française wiederum trat in der Dritten Republik so entschieden für die althergebrachten Rechte der katholischen Kirche ein wie kaum eine andere politische Kraft. Charles Maurras, der Vordenker und die treibende Kraft der Bewegung, ist „aus der Geschichte des Renouveau Catholique nicht wegzudenken.“[12] Papst Pius X. nannte Maurras angeblich sogar einen defensor fidei („Verteidiger des Glaubens“). Das wäre eine bemerkenswerte Auszeichnung gewesen für einen Mann, der keinen persönlichen Glauben hatte, sondern Agnostiker war.

Der fromme Maritain und der ungläubige Maurras bildeten für einige Jahre „ein unwahrscheinliches, aber herausragendes Paar“[13]. Eine engere Verbindung der beiden resultierte daraus, dass Pierre Villard, ein junger Royalist, der im Sommer 1918 bei Verdun gefallen war, Maritain und Maurras zu Erben seines ansehnlichen Vermögens eingesetzt hatte. Einen Teil des Erbes verwendeten die beiden, um gemeinsam eine Zeitschrift zu gründen, die Revue Universelle. Maritains in den Zwanzigerjahren erschienene Bücher gehen größtenteils auf in der Revue Universelle erschienene Artikelserien zurück.

Maurras und Maritain stimmten darin überein, dass sie die katholische Kirche für die Repräsentantin der französischen Nation und die Garantin der öffentlichen Ordnung hielten. Diese Übereinstimmung konnte die grundlegenden Unterschiede im Denken, in den Werten und im Temperament der beiden Männer aber nur vorübergehend überdecken. Das betraf nicht nur den Umstand, dass der eine an Gott glaubte und der andere nicht. Während Maritain, wie bereits erwähnt, ein politischer Skrupulant war, war Maurras politisch vollkommen skrupellos. Und während für Maritain die Verteidigung des Glaubens und der in diesem Glauben erkannten Wahrheit absolute Priorität hatte, folgte Maurras der Maxime „politique d’abord“[14] („Politik zuerst“). Den Katholizismus schätzte er als eine nationale Institution, aber nicht als religiöse Größe. „Die Wahrheit des Katholizismus ist dabei nicht von Interesse oder doch nur seine ‚historische Wahrheit‘ […]. Der Katholizismus ist wahr und gut in bezug auf Frankreich, da in ihm alle Elemente der traditionellen Ordnung konvergieren.“[15]

Einige französische Bischöfe hatten schon früh den problematischen und für die Kirche gefährlichen Charakter der Action française erkannt. Aber der Episkopat war in dieser Frage gespalten, und auch Rom zögerte viel zu lange. 1926 jedoch schrieb der Erzbischof von Bordeaux, Pierre-Paulin Kardinal Andrieu – ein im Übrigen durchaus überzeugter Antimodernist – einen warnenden Brief an die Jugend seines Bistums, in dem er die Anführer der Action française als „Catholiques par calcul et non par conviction“ („Katholiken aus Berechnung und nicht aus Überzeugung“) bezeichnete und ihnen vorwarf, dass sie der Kirche nicht dienen, sondern diese vielmehr in den Dienst ihrer politischen Machenschaften stellen wollten.[16] In einem Brief an den Kardinal stellte sich Papst Pius XI. hinter diese Kritik. Jacques Maritain versuchte noch zu vermitteln, aber in der folgenden Auseinandersetzung zeigte sich zu seinem Entsetzen der kompromisslose Charakter der Action française, die auf die kirchliche Kritik aggressiv reagierte. Als Konsequenz verurteilte Papst Pius XI. Ende 1926 die ultranationalistische Gruppierung, und Maurras̕ Bücher wurden auf den Index gesetzt. Im März 1927 stellte sich die französische Bischofskonferenz fast einmütig hinter die Entscheidung des Papstes. Die Abweichler wurden ihres Amtes enthoben, und auch Priester, die weiterhin mit der Action française sympathisierten, wurden aus dem Klerus entfernt.

Die römische Verurteilung versetzte der Action française einen Schlag, von dem sie sich nie ganz erholen sollte. Sie entzog der Bewegung einen mächtigen moralischen Rückhalt und bescherte ihr ein Nachwuchsproblem, weil sich insbesondere die katholische Jugend von ihr abwendete. Für die französische Kirche hingegen hatte die Trennung zwar einige in menschlicher Hinsicht schmerzhafte Konsequenzen, aber als Institution hatte sie letztlich die Kraft bewiesen, „mit ihren neo-konservativen Freunden aus eigener Initiative zu brechen, sich von der gefährlichen Schlingpflanze zu befreien, die in ihrem Schatten und Wurzelgrunde großgeworden war.“[17]

Rückblickend muss die vieldiskutierte Beziehung zwischen Maritain und Maurras wohl als ein tiefgreifendes wechselseitiges Missverständnis gesehen werden. Maurras sah Maritain fälschlicherweise als einen politischen Mitstreiter. Maritain wiederum hatte sich, „auf Distanz zur Welt bedacht […] vorübergehend der Illusion hingegeben, in der Action française eine Allianz für eine spirituelle Erneuerung in thomistischem Geist zu finden.“[18] In völliger Verkennung von Maurras̕ Charakter hatte er immer wieder versucht, diesen zum Glauben an Gott und zum Gehorsam gegenüber der Kirche zu bekehren. Deswegen war es auch kein Verrat, wie Maurras und dessen Anhänger es sahen, sondern es entsprach seiner grundsätzlichen Haltung, dass er sich ohne Zögern hinter die römische Verurteilung stellte. Mehr noch: Er ging in die Offensive und rechtfertigte die Entscheidung des Papstes in mehreren Publikationen. Diese Texte haben auch den Charakter einer „Bußübung“ angesichts der eigenen Fehleinschätzungen. Schon der Titel des ersten Buches zu der Causa setzte dabei einen Kontrapunkt zu dem „Politik zuerst“ von Maurras: Primauté du spirituel („Primat des Spirituellen“).

Dass Maritain als inzwischen allgemein bekannter Thomist und Hüter der Orthodoxie sich so unmissverständlich hinter die Verurteilung der Action française stellte, trug dazu bei, die dadurch entstandenen Friktionen im französischen Katholizismus in Grenzen zu halten. Papst Pius XI. empfing Maritain in einer Audienz, dankte ihm und bat ihn darum, in seinen Bemühungen, die kirchliche Position zu verteidigen, nicht nachzulassen. Auf diese Bitte hin verfasste Maritain eine weitere Denkschrift.

Maritains ohnehin schon bestehende Skepsis und Distanz zur Partei- und Machtpolitik waren durch den Eklat um die Action française nur noch gewachsen.

Christlicher Personalismus

Der Bruch mit der Action française fiel in die Zeit des Aufstiegs des Totalitarismus in Europa: Sowjetkommunismus, italienischer Faschismus, deutscher Nationalsozialismus. Nicht nur Maritain erkannte darin eine tiefgreifende Zivilisationskrise. In Frankreich betrat mit den „Nonkonformisten“ eine Gruppe junger französischer Intellektueller die Bühne, die aus den überkommenen Denkmustern und politischen Lagern ausbrechen wollten und einen „dritten Weg“ jenseits von rechts und links propagierten. Sie bezeichneten sich als „Personalisten“, um ihre eigene sozialphilosophische Position sowohl vom liberalen Individualismus als auch vom totalitären Kollektivismus abzusetzen.

Einer der führenden Köpfe der Nonkonformisten war der Philosoph Emmanuel Mounier, 1905 geboren und damit eine Generation jünger als Maritain. Mounier lernte die Maritains Ende der Zwanzigerjahre kennen und wurde deren regelmäßiger Gast bei philosophischen Gesprächstreffen in deren Haus in Meudon. Maritain nahm zeitweise die Position eines Mentors und Förderers für Mounier ein und beeinflusste dessen Personalismus stark in die christlich-philosophische, katholische Richtung. 1932 unterstützte er ihn bei der Gründung der Zeitschrift Esprit.[19]

Auch Maritain selbst entwickelt ein Konzept des Personalismus. Sein Christlicher Personalismus unterscheidet sich dabei nicht nur in der thomistischen Grundierung von den Konzepten anderer Personalisten, sondern er teilt auch nicht deren politischen Radikalismus. Thomas Keller spricht von den „zornigen jungen Personalisten“[20], die die Ränkespiele und den Parteienzwist der Dritten Republik verachteten. Auch Mounier wetterte in Esprit regelmäßig gegen die „desordre etabli“ („etablierte Unordnung“) der Dritten Republik. Von solchen Polemiken hielt sich Maritain tunlichst fern. Aus seinen Erlebnissen mit der Action française hatte er ein für alle Mal gelernt, wie schnell solche radikalen Worte auf abschüssiges Terrain führen konnten. Seinen jüngeren Protegé versuchte er von ähnlichen Irrtümern abzuhalten und bedrängte ihn, Esprit ein dezidiert katholisches Profil zu geben.[21] Damit war Maritain allerdings nur bedingt erfolgreich. Mounier suchte 1940 die Nähe des Vichy-Regimes, dessen „Révolution nationale“ („nationale Revolution“) er in eine personalistische Richtung lenken wollte. Auch andere Personalisten gerieten zeitweise in das Fahrwasser autoritärer Ordnungsvorstellungen.

Gleichwohl bleib der Antiliberalismus der Personalisten grosso modo ausbalanciert durch ihren Antitotalitarismus, durch ihr von christlichen Motiven geprägtes, anti-biologistisches Menschenbild und durch ihren Respekt vor gewachsenen gesellschaftlichen Institutionen, aus dem sich eine Präferenz für subsidiäre und föderale Ordnungsmodelle begründete.[22]

Auch Maritain gab seinem Christlichen Personalismus ein dezidiert anti- bzw. postliberales Framing. In seinem 1936 erschienenen personalistischen Hauptwerk Humanisme intégral („Integraler Humanismus“) heißt es, dass der „individualistische Liberalismus eine rein negative Kraft war: er lebte vom Widerstand und erhielt sich durch ihn. War das Hindernis einmal gefallen, so konnte er sich auch nicht mehr halten.“[23] Dieser Gedanke ist ein Grundmotiv der personalistischen Liberalismuskritik: Zwar hätten die Philosophie der Aufklärung und die durch sie inspirierten Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts das Individuum aus den Strukturen autoritärer Bevormundung befreit, aber zugleich hätten sie ihm seine soziale Einbettung und Orientierung genommen.

Maritain sprach von der „Dialektik des anthropozentrischen Humanismus“[24], den er an seinen inneren Widersprüchen zerbrechen sah. Indizien des bevorstehenden Zusammenbruchs waren für ihn – genau wie für viele seiner Zeitgenossen – die damals noch unbeantwortete Soziale Frage sowie die scheinbar unüberwindbaren Friktionen in den parlamentarischen Demokratien und das durch diese beiden Phänomene bedingte Aufkommen totalitärer Ideologien. „Nach allen Auflösungen und Dualismen des Zeitalters eines anthropozentrischen Humanismus“, so Maritain, weiß „auch die individuelle Person […] nicht mehr, wohin sie gehört, und sieht sich nurmehr in Auflösung und Zersetzung begriffen. Sie ist reif zur Abdankung […] zugunsten des Kollektivmenschen.“[25]

Um den Humanismus aus seinen Widersprüchen zu befreien und insbesondere um zu verhindern, dass er in die schlimmste Inhumanität des Totalitarismus umschlägt, gab es für Maritain nur einen Weg: den Weg zurück zu Gott. Dem dekonstruierten „anthropozentrischen Humanismus“ stellte er deshalb sein eigenes Konzept entgegen: „Humanismus, aber theozentrischer Humanismus, der dort verwurzelt ist, wo der Mensch seine Wurzeln hat, integraler Humanismus, Humanismus der Menschwerdung.“[26] Er sprach in diesem Zusammenhang auch von einem „wahrhaft christlichen Humanismus“, der anerkennt, „daß Gott der Mittelpunkt des Menschen ist. Er schließt die christliche Auffassung vom sündigen und erlösten Menschen ebenso ein wie die christliche Auffassung von Gnade und Freiheit.“[27]

Die in den Dreißigerjahren von innen und außen bedrohte Demokratie war nach Maritains Auffassung nur zu retten durch den Übergang hin zu einer „christlichen“ bzw. „personalistischen Demokratie“.[28] Im Gegensatz zur „liberalen Demokratie“, der es nach Maritains Überzeugung an Fundament und Zusammenhalt mangelte und die deswegen den Versuchungen von Faschismus und Kommunismus zu erliegen drohte, wird die „personalistische Demokratie“ durch ein christliches Wertefundament getragen – allerdings in einer „profanen pluralistischen Form“[29]. Dieser Zusatz ist wichtig, denn er macht deutlich, dass Maritain keineswegs die Moderne annullieren wollte. Das christliche Wertefundament, das in seinem Konzept das Gemeinwesen und deren personalistische Demokratie zusammenhalten soll, sind „nicht mehr die sakralen Werten, in denen das Gemeinwohl des mittelalterlichen Gemeinwesens verankert war“, aber doch „etwas wahrhaft und schon von Natur aus Heiliges: die Berufung der menschlichen Person zur geistigen Erfüllung und Erringung einer wahren Freiheit und die dafür erforderlichen Reserven moralischer Unantastbarkeit.“[30]

Bei genauerem Hinsehen kann man sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass Maritain bei seiner Gegenüberstellung von „liberalem Individualismus“ und „christlichem Personalismus“ die Unterschiede stark überzeichnet hat, so dass „der vermeintliche Gegner zu einem karikaturesk überzeichneten Popanz aufgebaut wird, um dann mit einem dialektischen Taschenspielertrick zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen: zum integralen Humanismus, zum Personalismus – aus dem dann, wie aus einem Taufbecken, die ganzen für den seinerzeitigen Katholizismus so unverträglichen modernistischen Werte wie Freiheit und Menschenrechte, Individualismus und Pluralismus von ihrer Ursünde gereinigt wieder aufsteigen.“[31]

Von dem eigenen Anspruch, den Liberalismus überwinden zu wollen, ist am Ende also nicht viel übriggeblieben. Vielmehr ist Maritains Modell eines christlichen Humanismus und einer personalistischen Demokratie zweifellos selbst ein liberales Konzept – jedenfalls im Sinne des „cold war liberalism“[32] („Kalter-Kriegs-Liberalismus“), der im Systemwettbewerb mit dem Sowjetkommunismus die freiheitlichen Institutionen des Westens gerechtfertigt und verteidigt hat. Der einzige bleibende Unterschied zu säkularen Liberalen ist, dass Maritain der festen Überzeugung war, dass diese liberalen Institutionen nicht nur kulturell im Christentum wurzeln, sondern dass sie für ihren Fortbestand auch weiterhin die Kraft aus diesen christlichen Wurzeln ziehen müssen.

Spätestens seit Mitte der Dreißigerjahre ist Maritain in der Auseinandersetzung mit den totalitären Ideologien von Faschismus, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus ein unbedingter Verteidiger der Freiheit gewesen. Charles de Gaulle hat ihn deshalb in mehreren Briefen eindringlich gebeten, aus seinem Exil in den USA zu ihm nach London zu kommen, um an seiner Seite für France libre zu kämpfen, das gegen das Vichy-Regime von dem General ausgerufene „Freie Frankreich“.

Menschenrechte, Christdemokratie und Zweites Vatikanum

Aus der Sicht eines wissenschaftstheoretischen Puristen mag Maritains Begründung seines Konzepts des christlichen Personalismus bzw. genauer gesagt: dessen polemische Abgrenzung gegenüber dem liberalen Individualismus inkonsistent sein. Aber gerade diese Abgrenzung gegenüber dem Liberalismus war ein wesentlicher Grund für den enormen wirkungsgeschichtlichen Erfolg des Personalismus. Denn in diesem Konzept liegt die grundsätzliche Anerkennung der freiheitlichen Gesellschaft, des neuzeitlichen Rechtsstaats und der Demokratie, aber mit einer dezidiert christlich-philosophischen, Maritain sagt sogar: „theozentrischen“ Begründung. Rhetorisch gab sich Maritain also weiterhin als Hüter der Orthodoxie, und gerade dadurch baute er für den im Antimodernismus festgefahrenen Katholizismus eine gangbare Brücke in die freiheitliche Moderne. Er „ebnete vielen katholischen Denkern einen Weg zurück von den extremistischen Abgründen, an die sie die politischen und ökonomischen Herausforderungen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geführt hatten. […] Sein Personalismus erlaubte es antiliberalen Intellektuellen, vielen ihrer Grundüberzeugungen treu zu bleiben, sich insbesondere auch weiterhin konsequent gegen den Marxismus zu stellen – und doch auf die eine oder andere Art Frieden mit der Demokratie zu schließen.“[33]

Jan-Werner Müller spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Christdemokratisierung“[34] des Katholizismus, und in der Tat: wenn man einen ideengeschichtlichen Taufpaten für die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern gegründeten christdemokratischen Parteien benennen möchte, dann ist das zweifellos der christliche Personalismus, dessen wichtigster Vordenker Maritain gewesen ist. Kontinentaleuropa hat eine Tradition der Weltanschauungsparteien, und schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik hatte es christliche Parteien gegeben. Allerdings waren das konfessionelle Parteien gewesen, die im Zweifel als Interessenpartei der Kirche agiert hatten. Das fatalste Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Zustimmung der Zentrumspartei zum Ermächtigungsgesetz im März 1933, die mit Blick auf das von Hitler in Aussicht gestellte Reichskonkordat erfolgt war. Die christdemokratischen Parteien hingegen definierten sich nicht mehr als Konfessionsparteien, sondern als Sammlungsparteien und erklärten programmatisch nicht mehr die Interessenvertretung für die Kirche, sondern das christliche Menschenbild zum Fundament und zum Fluchtpunkt ihrer Politik. Das entsprach ganz der Idee Maritains, der schon vor dem Krieg von einer neuen, christlich inspirierten, politischen Sammlungsbewegung geträumt hatte. „Ihr Grundgesetz“, so schrieb er 1936, „wäre die Achtung vor der Person und der geistigen Kraft der evangelischen Liebe“[35]. An der Gründung christdemokratischer Parteien hat er sich allerdings nicht persönlich beteiligt. Auch in diesem Fall konnte er seine grundsätzliche Skepsis gegenüber Parteipolitik letztendlich nicht überwinden.

Wirksam wurden Maritains Gedanken auch mit Blick auf die Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende 1948. Maritain leitete die französische Delegation bei einem UNESCO-Projekt, das die Entstehung der Deklaration begleitete. Schon während des Krieges hatte er sich mit dem Konzept universaler Menschenrechte beschäftigt, etwa in dem erstmals 1942 erschienenen Essay Les Droits de l’Homme et la Loi Naturelle („Die Menschenrechte und das Naturrecht“). Größeren Einfluss scheinen seine Überlegungen auf Charles Malik gehabt zu haben, der als libanesischer Gesandter an der Menschenrechtserklärung mitarbeitete.[36] Es ist zudem naheliegend, dass er sich mit René Cassin in irgendeiner Weise ausgetauscht hat, der als französischer UN-Botschafter den Text der Deklaration mitverfasst hat.

Rückblickend mag das alles aussehen wie ein triumphaler Siegeszug der sozialphilosophischen Ideen Maritains nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch dieser Eindruck trügt. Auch zu dieser Zeit ist Maritain Widerständen und Anfeindungen der extremen politischen Rechten ausgesetzt, die ihm seinen Bruch mit der Action française niemals vergessen hatte. Carl Schmitt, der „Kronjurist des Dritten Reiches“, schmähte ihn in einer seiner Nachkriegsaufzeichnungen als „Cauchemaritain“[37], in Anlehnung an das französische Wort cauchemar (Alptraum).

Auch innerhalb der Kirche wurde Maritain von Traditionalisten angefeindet. Sie sahen in dem Thomisten einen „Linkskatholiken“. In einem Text zur Vorbereitung auf das Zweite Vatikanische Konzil wurde gar eine Rüge von Maritains Position zum Verhältnis von Spirituellem und Zeitlichem vorgeschlagen.[38] Diese Intrige hatte allerdings keinen Erfolg, und als am 21. Juni 1963 Kardinal Montini zum Papst gewählt wurde, nahm die Geschichte eine völlig andere Wendung. Von 1945 bis 1948 hatte Maritain – der eindringlichen Bitte de Gaulles folgend – als französischer Botschafter am Heiligen Stuhl gewirkt. In diesen römischen Jahren hatte er sich regelmäßig mit Montini zum philosophischen Tête-à-Tête getroffen. Seitdem waren die beiden Männer einander sehr verbunden. Zwar verzichtete Papst Paul VI. darauf, Maritain offiziell als Konzilsbeobachter zu berufen. Nachdem dessen Frau Raïssa Ende 1961 gestorben war, war er ein gebrochener Mann und führte ein zurückgezogenes Leben in der Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu in Toulouse. Papst Paul VI. respektierte das. Nachdem aber während der dritten Sitzungsperiode des Konzils die Konflikte zwischen den Reformern und Bewahrern erneut und umso heftiger aufbrachen, insbesondere um die Frage der Religionsfreiheit und die Rolle der Laien in der Kirche, entschied sich der Papst doch dafür, den Rat Maritains einzuholen. Ende 1964 sandte er seinen Privatsekretär Pasquale Macci mit einem Fragenkatalog nach Toulouse. Maritain verfasste daraufhin vier Memoranden für den Papst.

Anfang 1965 ernannte Papst Paul VI. zudem den Schweizer Theologieprofessor Charles Journet, einen engen Freund und Weggefährten Martains, zum Kardinal. Am Ende setzte sich die „Linie Maritain-Journet“ (Papst Paul VI.) auf dem Konzil weitgehend durch. Maritains Position zur Autonomie des Zeitlichen, wegen der ihn einige Traditionalisten noch zu Beginn des Konzils abmahnen lassen wollten, ging in die Pastoralkonstitution Gaudium et spes ein, das letzte Dokument, das von dem Konzil am 7. Dezember 1965 verabschiedet wurde.

Schluss

Nach seiner Konversion zum Katholizismus wurde Maritain Teil der katholischen Erneuerungsbewegung des Renouveau catholique. Die Wirren der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat in der Dritten Republik brachten ihn zunächst in die Nähe traditionalistischer und nationalistischer Kreise. Nach seinem Bruch mit der Action française besann er sich allerdings, dass der Kern der christlichen Botschaft nicht auf irgendeine herausgehobene Stellung der Kirche im Staat zielt, sondern auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und die daraus fließende Würde eines jeden Menschen. In der Auseinandersetzung mit den den Ersatzreligionen des Faschismus, Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus wurde er zu dem entschiedensten Verfechter der Demokratie und der Menschenrechte.

Maritain protestierte öffentlich gegen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Truppen General Francos im Spanischen Bürgerkrieg.[39] Damit stieß er bei manchen seiner Weggefährten auf völliges Unverständnis. In Frankreich wurde der Konflikt im Nachbarland mit großer Anteilnahme verfolgt – auch weil die politische Spaltung zwischen einer starken antiklerikalen Linken und einer nationalistischen Rechten in der Dritten Republik ähnlich war und nicht wenige die Befürchtung hatten, Frankreich könnte ebenfalls in einen derart blutigen Bürgerkrieg abgleiten. In Spanien hatten auch republikanische Milizen barbarische Verbrechen begangen, Kirchen niedergebrannt, Priester ermordet und Nonnen vergewaltigt. Die spanischen Bischöfe nannten Francos Putsch deshalb einen Kreuzzug. Das sahen auch viele französische Katholiken und Intellektuelle so, zum Beispiel der Schriftsteller Paul Claudel. Ein Sieg der Republikaner hätte das Ende der Kirche in Spanien bedeuten können. Aber für Maritain war das keine Rechtfertigung, sich mit Franco und den spanischen Faschisten einzulassen. Wer gegen das christliche Grundgesetz der Achtung vor der Person handelte, konnte nach seiner Überzeugung kein Bundesgenosse der Kirche sein. Die Bewahrung der Reinheit des Evangeliums stand für ihn über jedem politischen Machtkalkül. Noch 1966 schrieb er: „In der Politik hat man sich oft, und mit Recht, auf das Prinzip des geringeren Übels berufen. Es gibt aber auf diesem Gebiet kein größeres Übel, als in unserer irdischen Ordnung […] Gerechtigkeit und Liebe ohne Zeugnis zu lassen.“[40]

Auch heute gibt es manche, die eine Allianz mit zwielichtigen politischen Kräften eingehen möchten, um das christliche Abendland zu retten. Aus der Biografie Maritains ist zu lernen, dass dieser Versuch ein Holzweg ist. Maritains tiefer Glaube gab ihm die Zuversicht, dass der unverfälschte Einsatz für das Evangelium niemals vergeblich ist. 1933, in einer Zeit also, als man angesichts von Faschismus, Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus tatsächlich den Eindruck hätte haben können, dass das christliche Abendland dem Untergang geweiht ist, schrieb er: „Man muss auf die Geschichte wirken, soviel man kann, wenn nur Gott als erstem gedient ist; man muss sich aber damit abfinden, dass sie sich oft gegen uns entwickelt (denn gegen Gott entwickelt sie sich nie). Ebenso ist auch die Hauptsache im Hinblick auf das Dasein in der Geschichte nicht, Erfolg zu haben (was nie Dauer hat), sondern an seinem Platz gewesen zu sein (was unauslöschlich ist).“[41]

Anmerkungen

 

[1]    Jacques Maritain, unveröffentlichtes Tagebuch, zit. n. Michel Cagin OSB, Jacques Maritain und das Zweite Vatikanische Konzil, in: IKaZ Communio 45 (2016), 60-75, hier: 65.

[2]    Vgl. Peter Nickl, Jacques Maritain. Eine Einführung in Leben und Werk, Paderborn u.a.1992, 84 ff.

[3]    Siehe dazu und zum Folgenden Jacques Gadille, Das Scheitern der Aussöhnung der Katholiken mit der Republik in Frankreich, in: Handbuch der Kirchengeschichte, hrsg. v. Hubert Jedin, Bd. VI, Freiburg u.a. 1999, 100-112.

[4]    Vgl. Thomas Hellmuth, Frankreich im 19. Jahrhundert: Eine Kulturgeschichte, Wien 2020, 251.

[5]    Vgl. Roger Mehl, Art. Laizismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, Berlin 1990, 404-409, hier: 406.

[6]    Vgl. Pierre L’Abbé, Jacques Maritain and Charles Péguy: A Reassessment, in: Études maritainiennes / Maritain Studies 4 (1988), 45-52.

[7]    Vgl. Nickl (Anm. 2)., 37.

[8]    Heinrich Schmidinger, Der Mensch ist Person. Ein christliches Prinzip in theologischer und philosophischer Sicht, Innsbruck/Wien 1994, 120.

[9]    Vgl. Nickl (Anm. 2), 27, 29, 37-39.

[10]  Vgl. ebd., 28.

[11]  Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Bd. 2: Die Zeit der Weltkriege 1914-1945, Sonderausg. München 2016, 456.

[12]  Vgl. dazu und zum Folgenden Robert Spaemann, „Politik zuerst?“ Das Schicksal der Action française, in: Wort und Wahrheit 9 (1953), 655-662, hier: 659.

[13]  James Chappel, Catholic Modern. The Challenge of Totalitarianism and the Remaking of the Church, Cambridge (Mass.)/London 2018, 35.

[14]  Charles Maurras, Mes idées politiques, Nachdr. d. Ausg. v. 1937, Paris 2019, 159.

[15]  Spaemann (Anm. 12), 658.

[16]  Vgl. Ernst Nolte, Die Action française 1899-1944, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), 124-165, hier: 151.

[17]  Ebd., 152.

[18]  Nickl (Anm. 2), 95.

[19]  Vgl. ebd., 97.

[20]  Thomas Keller, Der Wettlauf der Revolutionen: personalistische Dritte-Weg-Diskurse in Deutschland und Frankreich, in: Comparativ 6 (1996), Heft 6, 44-93, hier: 87.

[21]  Vgl. dazu und zum Folgenden Jan-Werner Müller, Die eigentlich katholische Entschärfung? Jacques Maritain und die christdemokratischen Fluchtwege aus dem Zeitalter der Extreme, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), Heft 3, 40-54, hier: 45.

[22]  Vgl. Keller (Anm. 20), 87.

[23]  Jacques Maritain, Christlicher Humanismus. Politische und geistige Fragen einer neuen Christenheit, Heidelberg 1950, 124.

[24]  Ebd., 23.

[25]  Ebd., 25.

[26]  Ebd., 56.

[27]  Ebd., 22 f.

[28]  Siehe ebd., 158 f.

[29]  Ebd., 138.

[30]  Ebd., 144.

[31]  Arnd Küppers, Theozentrischer Humanismus. Impulse von Jacques Maritain – noch heute relevant?, in: zur debatte, Jg. 53 (2023), Heft 1, 12-16, hier: 14.

[32] Richard J. Bernstein, One Step Forward, Two Steps Backward. Rorty on Liberal Democracy and Philosophy, in: Ders., The New Constellation. The Ethical-Political Horizons of Modernity/ Postmodernity, 4. Aufl., Cambridge (Mass.) 1998, 230-257, hier: 249.

[33]  Müller (Anm. 21), 41.

[34]  Ebd.

[35]  Maritain (Anm. 23), 213.

[36]  Siehe dazu Pedro Pallares Yabur, Una introducción a la relación entre Jacques Maritain y algunos redactores nucleares de la Declaración Universal de los Derechos Humanos, in: Open Insight 9 (2015), 173-203.

[37]  Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, 267.

[38]  Siehe dazu und zu diesem ganzen Absatz Cagin OSB (Anm. 1).

[39]  Siehe dazu und zum Folgenden Bernard Doering, Jacques Maritain and the Spanish Civil War, in: The Review of Politics, 44 (1982), 489-522.

[40]  Jacques Maritain, Der Bauer von der Garonne. Ein alter Laie macht sich Gedanken, München 1969, 34.

[41] Jacques Maritain, Gesellschaftsordnung und Freiheit, Luzern 1936, 64.

 

Der Verfasser

Dr. Arnd Küppers ist Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ).