Markus Vogt | 02. April 2020

Erinnerung im Dienst einer Ethik des Widerstands

In Deutschland ändert sich gegenwärtig die Erinnerungskultur. Es leben nur noch wenige Zeitzeugen des Holocaust mit ihrer starken Erfahrung des „Nie-Wieder“. Dies führt zu einer Verunsicherung der moralischen Maßstäbe, wie sich nicht zuletzt im neuen Erstarken des Antisemitismus zeigt. Wie kann die Kultur des Erinnerns in angemessener Form weiter und neu gepflegt werden? Hierzu will der folgende Beitrag einige sozialethische Überlegungen beisteuern.

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ sagt der Talmud. Dem hebräischen Konzept des Erinnerns (zakar) eignet eine ursprüngliche Kraft, die die verschiedenen christlichen und säkularen Traditionen des Erinnerns bereichern kann: Erinnern ist demnach darauf ausgerichtet, möglichst genau zu verstehen, wodurch sich Schicksale entscheiden, wie Konflikte, Unglück und „Exil“ entstehen. Nur wer sich erinnert, ist fähig zu lernen und sich aus den oft lange nachwirkenden Verstrickungen zu befreien. Vor diesem Hintergrund sollten wir beispielsweise die Mitglieder der Weißen Rose in der Erinnerungskultur nicht einfach auf einen Sockel heben, so dass sie weit von uns entfernt sind, sondern sie in ihren spezifischen Handlungskontexten und Suchprozessen zu verstehen suchen. Nur dann werden sie zu Figuren, die auch für uns anschlussfähige Vorbilder sein können. Erinnern im Sinne von zakar will nicht nur dem historischen Geschehen ein Andenken bewahren, sondern zum Denken anregen, zum Nachdenken darüber, wie wir uns heute in der stets neu geforderten Verteidigung von Freiheit und Gerechtigkeit verhalten. Sollen die Mitglieder der Weißen Rose nicht umsonst gestorben sein, dann ist ihre Hinrichtung Auftrag zu einer Ethik des Widerstands.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die damalige Situation unter einer totalitären Herrschaft, in der Widerstand den todesmutigen Einsatz des eigenen Lebens forderte, nicht mit der heutigen Situation in Deutschland als einem liberalen Rechtsstaat gleichzusetzen ist. Erinnerung denken heißt auch, die unterschiedlichen Kontexte und Dimensionen im Blick behalten. Unter dieser Prämisse lassen sich jedoch auch heute zahlreiche Situationen entdecken, in denen es darauf ankommt, widerständig und mutig zu sein, statt angepasst mitzuschwimmen und sich wegzuducken. Zivilcourage ist die kleine Münze des Widerstands. Ohne diese wird es auch im Großen keinen Widerstand gegen die je unterschiedlichen Formen von Intoleranz, Ausgrenzung und Ideologie geben. Kritische Zeitgenossenschaft, aufrichtiges Menschsein und Zivilcourage einzuüben ist eine fundamentale Bildungsaufgabe.

Der Widerstand wird erst dann zu einer Tugend, wenn er nicht einfach ein Mangel an Loyalität und Gehorsam ist, sondern aus der Tiefe einer Gewissensentscheidung kommt. Widerstand und Loyalität sind komplementär als sich wechselseitig ergänzende Gegenpole zu denken, die beide ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben. Erst im situationsspezifischen Ringen darum, welcher Aspekt jeweils Priorität hat, gewinnen sie ihre ethische Qualität. Die Inanspruchnahme der Weißen Rose für eine pauschale Kritik des vermeintlich verantwortungslosen Systems des gegenwärtigen Staates von Seiten der AfD (Ortsverband Schwerin im September 2018), deren Vertreter bei Demonstrationen das Symbol der Weißen Rose trugen und aus deren Flugblättern zitierten, ist ein schwerer Missbrauch.

Widerstand wird erst dann ethisch qualifiziert, wenn er durch die Verteidigung der Menschenrechte motiviert ist. Dies war bei den Geschwistern Scholl in sehr eindrucksvoller Weise in ihrem intensiven Ringen um die rechte Haltung zum Nationalsozialismus der Fall. Dabei spielte auch der christliche Glaube eine wesentliche Rolle, nicht als fertige Antwort, sondern als Ort der Gewissensbildung und der Suche nach Orientierung und Unterscheidung.

Die entscheidende Antwort auf das moralische Versagen im Nationalsozialismus hat das deutsche Grundgesetz 1949 formuliert. „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes trugen – wenn man so will – dem letzten Willen Wilhelm Grafs Rechnung: weiterzutragen, was die Weiße Rose begonnen hatte. Die unverletzliche Würde des Menschen als Grundlage einer neuen Rechtsordnung. Auf dieser Grundlage basiert unser Staat. Er bekennt sich in Art. 1 des Grundgesetzes zur unverletzlichen Würde des Menschen. Nicht die Volksgemeinschaft, sondern das Individuum ist der Referenzrahmen.“ (Heribert Prantl) Weil die Geschichte ein ständiger Verstoß gegen die eigenen Werte ist, sind wir unablässig aufgefordert, unser Handeln zu hinterfragen. „Jede Generation muss sich immer wieder neu darüber verständigen, wie die Werteordnung des Grundgesetzes mit Leben gefüllt werden kann.“ (Wolfgang Schäuble) Wer kann von sich sagen, dass er nicht häufig bloß Mitläufer ist und schweigt, wenn Unrecht geschieht? Jahrzehnte haben wir in der Katholischen Kirche weggeschaut angesichts des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, der weltweit geschah und geschieht. Es geht auch darum, das Versagen als systemisches Problem zu begreifen. Das gilt für viele Bereiche und stellt neue, komplexe Fragen der Definition von Verantwortung und der Organisation von Rechenschaftspflichten.

Eine zentrale Herausforderung des moralischen Versagens der gegenwärtigen Generation ist der Klimaschutz: Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln ist hier unübersehbar. Wir alle sind Teil einer Lebens- und Wirtschaftsform, von der wir wissen, dass sie die Lebenschancen von Millionen von Menschen massiv beeinträchtigt – heute und in noch viel größerem Umfang in der Zukunft. Es sind in der Gegenwart erstaunlicherweise junge Frauen (wie Sophie Scholl), die zu Symbolfiguren des Widerstands geworden sind: Greta Thunberg angesichts der mangelnden Verantwortung im Klimaschutz, Carola Rackete und Pia Klemp im Widerstand gegen das inhumane Wegsehen, wenn tausende von Migrant*innen im Mittelmeer ertrinken, weil sich Europa nicht auf eine faire Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen einigen kann. Die Zivilcourage dieser jungen Frauen ist bewundernswert. Gleichwohl sollte man die Unterschiede der historischen Kontexte nicht übersehen. Widerstand braucht auch Räume differenzierter ethischer Urteilsbildung.

Die Flugblätter der Weißen Rose bieten prägnante Reflexionen, die zeitübergreifend relevant sind und deren ethischer Gehalt je neu in die Gegenwart zu übersetzen ist. In ihnen stehen Worte, „die vieles gutmachen, was in gewissen unseligen Jahren an deutschen Universitäten gesündigt worden ist“ (Thomas Mann). Zugleich sprechen sie von einem tiefen Versagen der Eliten, denen eine Schlüsselstellung für die Ermöglichung von Verantwortung des Volkes zukomme. Universitäten sollten nicht nur Exzellenz in der akademischen Selbstdarstellung produzieren, sondern Verantwortungseliten heranbilden, die ihr Wissen in den Dienst der Gesellschaft stellen und ihre besondere Freiheit auch als Raum der Charakterbildung, der Verdichtung des Einzelwissens zu Orientierung und der Einübung von Verantwortung nutzen.

Der Verfasser

Prof. Dr. Markus Vogt, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.