Peter Schallenberg | 13. Oktober 2021

Franz Hitze

Anfang der katholischen Sozialethik in Deutschland

Neben dem Münsterländer Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), Bischof von Mainz, ist es der Sauerländer Franz Hitze (1851-1921), Paderborner Priester, der die Entstehung der katholischen Sozialethik in Deutschland am meisten geprägt hat. In diesem Jahr gedenken wir seines 100. Todestages. Geboren im Dorf Hanemicke bei Olpe im Sauerland, besuchte er das Gymnasium Theodorianum in Paderborn und war zu der Zeit schon politisch sehr interessiert; er studierte die Reden, Predigten und Schriften von Bischof Ketteler und beschäftigte sich schon sehr früh mit dem Problem der Verelendung der Arbeiter und mit Fragen des gerechten Lohns.

Nach dem Abitur 1872 wollte er Priester werden und mußte, bedingt durch den inzwischen ausgebrochenen Kulturkampf, in Würzburg Theologie studieren. Kurz nach Ende des Studiums veröffentlichte er schon sein erstes Buch mit dem Titel: „Die sociale Frage und die Bestrebungen zu ihrer Lösung“. Sein Bischof Konrad Martin, der selbst schwer im preußischen Kulturkampf litt, schickte ihn 1878 kurz nach der Priesterweihe zum Weiterstudium am Campo Santo Teutonico in Rom. Dort sollte er eigentlich Kirchengeschichte studieren, verlegte sich aber auf seine frühe Liebe, die Sozialwissenschaften, setzte sich mit den sozialistischen Thesen von Karl Marx auseinander und veröffentlichte 1880 ein voluminöses Buch „Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft“ mit den programmatischen Eingangssätzen im Vorwort: „Wir wollen sozialistische Bindung der gesellschaftlichen Kräfte gegenüber der gesellschaftlichen Auflösung des Liberalismus. Wir wollen ständische Gliederung der Gesellschaft gegenüber der Unterschiedslosigkeit des socialistischen Volksstaates. Wir wollen endlich die persönliche Freiheit des Liberalismus und Demokratismus, auch nicht bloß die materielle des Socialismus, sondern die politische, sociale und materielle, aber nur in und mit dem Stande, nur soweit als der gesellschaftliche Bestand es zuläßt.“ Wie dem anderen katholischen Sozialdenker jener Zeit, dem in Wien lehrenden Karl von Vogelsang (1818-1890), und wie noch Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931), schwebt ihm eine Reorganisation der modernen kapitalistischen Industriegesellschaft nach dem Vorbild des mittelalterlichen Zünftewesens vor. „Die Übermacht des Kapitals und der Maschine“ soll gebrochen und „die Fortschritte der Production für das Ganze dienstbar“ gemacht werden, so schreibt er.

Auch wenn das kein moderner Ansatz mehr zur Lösung der sozialen Frage ist, so hat Franz Hitze dennoch deutlich gesehen: Der Kern der modernen sozialen Frage war nicht die Armut der Arbeiter – das hatte es immer schon in der Geschichte der Menschheit gegeben, wenn auch nicht in solchem monströsem Ausmaß – und die Verelendung an sich, sondern die wirtschaftliche, politische und kulturelle Ausgrenzung großer Bevölkerungsgruppen von der komfortablen Situation des gesättigten Bürgertums. Verstärkt wurde das fatalerweise noch durch den unerbittlichen Kampf Bismarcks gegen die Sozialisten, auch wenn dies umgekehrt dann zu den ersten allgemeinen Sozialgesetzen und Versicherungen führte. Heute würden wir von dauerhafter Exklusion und tiefer Spaltung der Gesellschaft sprechen, wie wir es etwa in den USA auf den Straßen mit Händen greifen können, aber auch in vielen französischen und englischen Vorstädten. Der Kern der Arbeiterfrage zur Zeit von Franz Hitze war also der zunehmende Zerfall der Gesellschaft in zwei Klassen, die nicht nur gegenläufige wirtschaftliche Interessen hatten, sondern in völlig unterschiedlichen Lebenswelten existierten. Für Franz Hitze als katholischer Priester war diese Vorstellung von der dauerhaften Ausgrenzung von Menschen unerträglich: Jeder Mensch ist doch Geschöpf Gottes und zur Freiheit der Entfaltung seiner Gottebenbildlichkeit berufen!

Dieses Ziel verfolgte Franz Hitze auch nach der Rückkehr aus Rom als Generalsekretär des frisch vom Mönchengladbacher katholischen Fabrikanten Franz Brandts (1834-1914) gegründeten Verbands „Arbeiterwohlfahrt“, aus dem 1890 der berühmte „Volksverein für das katholische Deutschland“ als Sammelverein aller katholischen Sozialbewegungen in Deutschland hervorging. Kurz vor seinem Tod bekräftigte Franz Hitze noch einmal im Nachwort zu seinem Buch „Kapital und Arbeit“, was ihn bewegt hatte: „Ich begann eine neue Lebensauffassung und ein neues Lebensprogramm mit dem Ziel: alle Kräfte einzusetzen, um durch eine großzügige Sozialreform, durch eine systematische Erziehungsarbeit und Selbstschulung diese Massen wirtschaftlich, sittlich und geistig so zu heben, daß sie für eine verantwortliche Mitarbeit in Staat und Gesellschaft reif würden.“ Modern gesprochen: Durch Bildung und gerechte Löhne und Sozialversicherung sollte die Spaltung der Gesellschaft vermieden und gesellschaftlicher Frieden erreicht werden. Das ist exakt das Ziel der heutigen Sozialen Marktwirtschaft.

Bereits 1893 wurde Franz Hitze als Professor dann auf den ersten Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in Münster berufen. Schon 1882 war er für das Zentrum ins Preußische Abgeordnetenhaus und 1884 in den Reichstag gewählt worden; er blieb dies bis zu seinem Tod und wurde im Reichstag, immer als Priester erkenntlich und anerkannt, bald zum führenden Sozialpolitiker der Fraktion des Zentrum, zusammen mit Georg von Hertling (1843-1919), dem bayrischen Politiker und vorletztem Reichskanzler des Kaiserreichs. Jetzt ging es um die Einrichtung von Arbeiter-Sozialversicherungen, um Gesetze zur Begrenzung der täglichen Arbeitszeit, um die Ausweitung des Mutterschutzes auf acht Wochen, um das Recht auf Bildung von Gewerkschaften und um das Streikrecht. Eine heute in Deutschland geltende rechtliche Institutionalisierung des Tarifkonfliktes und die Tarifautonomie als Grundpfeiler des Sozialstaates sind hier schon vorgedacht. Die damit beginnende Ordnungspolitik und die sozialpolitische Abfederung des Kapitalismus haben letztendlich den Liberalismus über den Kommunismus siegen lassen: Das Proletariat und das damit verbundene Massenelend wurde aufgelöst, anders etwa als in den USA oder in vielen Ländern Lateinamerikas und Asiens, durch entschlossene Einbindung aller Bevölkerungsgruppen in den Sozialstaat.

Franz Hitze hat durch sein bahnbrechendes politisches Wirken zweifellos die Welt ein Stück besser gemacht. Er ist einer der bedeutendsten Väter des modernen deutschen Sozialstaates und damit auch der Idee einer Sozialen Marktwirtschaft, die kurz nach seinem Tod als Idee begann, und inzwischen in ganz Europa durch den Vertrag von Lissabon wirtschaftspolitische  Wirklichkeit geworden ist.

Der Verfasser

Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Konsultor am Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in Rom.