Peter Schallenberg | 14. August 2020
Fünf Jahre nach der Enzyklika Laudato si
Gott, Umwelt, Kapitalismus
Vor fünf Jahren, ganz genau am 24. Mai 2015, erschien Papst Franziskus‘ Sozial- und Umweltenzyklika Laudato si‘. Vom Papst wurde jetzt aus Anlass des fünfjährigen Jubiläums ein besonderes Jahr der Vertiefung der Enzyklika und ihrer verschiedenen ethischen Themen ausgerufen. Nicht nur übrigens in der Theorie, sondern auch in der pastoralen und politischen Praxis: Angeregt werden sollen auch konkrete Projekte in Pfarrgemeinden, Sozialverbänden und Diözesen zur Förderung von Klimaschutz und Umweltverträglichkeit, die möglicherweise sogar als Vorbild und Ansporn für die kommunale Politik dienen können. Sage niemand, das habe nichts mit dem Evangelium und der christlichen Botschaft zu tun und sei bloßer Humanismus oder gar geschickt getarnter Atheismus eines der Mission und der Neuevangelisierung müde gewordenen Christentums! Gewiss, es gibt die Versuchung, das Christentum in bloß diesseitige Politik aufzulösen; es gibt aber umgekehrt ebenso die nicht minder gefährliche Versuchung, das Christentum in die beschauliche Betkammer der vertikalen innerkirchlichen Nabelschau einzusperren. Beide Straßengräben, die Genügsamkeit im Diesseits und die Fixierung auf das Jenseits, sind zu vermeiden, da Gott Mensch wurde und damit nach christlichem Glauben das Jenseits erst im Diesseits offenbar und sichtbar wird. Wenn Gott Mensch geworden ist und seit der Himmelfahrt die menschliche Natur mit in die Dreifaltigkeit und die Ewigkeit genommen ist, dann geht es eben nicht mehr nur und isoliert um den Schutz und die Entfaltung der Natur des Menschen, um sein Wesen, sondern ebenso um den Schutz und die Entfaltung des Menschen in der Natur, in der Schöpfung Gottes. Kein Mensch existiert ohne Raum und Kontext und Zeit, und wie dieser Raum gestaltet wird, so gestaltet sich die Entfaltung des Menschen als Ebenbild Gottes. Keine menschliche Person kann sich entwickeln in einer verwüsteten Umwelt und in einem ruinösen Klima: Umweltschutz ist immer auch Personenschutz! Und dazu gehören so unterschiedliche Dinge wie der Schutz der Regenwälder am Amazonas wie auch die Menschenwürde der Beschäftigten in der deutschen Fleischindustrie wie auch der Tierschutz unserer Nutztiere.
Dieser umfassende Ansatz einer ganzheitlichen und nachhaltigen Entwicklung des Menschen steht im Mittelpunkt des vatikanischen Jahres zu Laudato si. Aus diesem Anlass hat die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) der Deutschen Bischofskonferenz in Mönchengladbach in Kooperation mit dem vatikanischen Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und ihrem Präfekten Peter Kardinal Turkson am 24. Juni 2020 ein digitales Kolloquium mit dem Titel „Laudato si – Bilanz und Perspektiven nach fünf Jahren“ durchgeführt. Kardinal Turkson, der Essener Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck sowie namhafte Sozialethiker aus Europa und den USA beleuchteten verschiedene Aspekte der Enzyklika und zogen eine Zwischenbilanz zur „Sorge für das gemeinsame Haus der Natur und der Umwelt“. Nicht zuletzt wurde die spirituelle Dimension von Laudato si im Sinn einer franziskanischen Frömmigkeit des Schöpfungsgesanges beleuchtet, sowie die ökumenische Bedeutung der Enzyklika herausgestellt.
Auch im Vatikan wird weiter über den reichen Inhalt der Enzyklika nachgedacht. Das jüngst erschienene, dikasterienübergreifend erarbeitete neue Dokument „Unterwegs zur Pflege des gemeinsamen Hauses” (im Original: „In cammino per la cura della casa comune – A cinque anni dalla Laudato si”) vertieft einige der Aussagen der Enzyklika, insbesondere mit Blick auf eine immer notwendige Unterscheidung zwischen europäischer Sozialer Marktwirtschaft einerseits – manchmal auch, ohne Bayern auszuschließen und nur in Erinnerung an Konrad Adenauer, „rheinischer Kapitalismus“ genannt – und nordamerikanischem Kapitalismus andererseits.Das kann exemplarisch am dem einschlägigen Kapitel des Dokumentes zum Thema „Finanzen“ ansichtig gemacht werden. Dazu hatte sich der Vatikan erstmals bereits 2018 in einem Dokument mit „Erwägungen zu einer ethischen Unterscheidung bezüglich einiger Aspekte des gegenwärtigen Finanzwirtschaftssystems“ geäußert.
Das Kapitel beginnt mit einer Zitation aus „Laudato si“ (LS) Nr. 109: „Die Wirtschaft nimmt jede technologische Entwicklung im Hinblick auf den Profit an, ohne auf mögliche negative Auswirkungen für den Menschen zu achten. Die Finanzwirtschaft erstickt die Realwirtschaft. Man hat die Lektionen der weltweiten Finanzkrise nicht gelernt, und nur sehr langsam lernt man die Lektionen der Umweltschädigung.“ Daraus ergibt sich ein Zusammenhang von aktuellen Finanzfragen und einer sogenannten „ökologischen Bekehrung“. Dies wirft zwei Fragen auf: Was kostet eigentlich eine ganzheitliche Ökologie? Und zweitens: Wieviel und was genau gewinnt man damit? Diese beiden Fragen erwarten eine Antwort, die ihrerseits eine vorausgehende moralische und ethische Entscheidung verlangt, die nicht allein der Finanzwelt überlassen werden kann, da diese allzu oft beherrscht wird vom technokratischen Paradigma und einer Mentalität der Spekulation und der kurzfristigen Profitgier. Man könnte auch sagen: Fragen nach „Wozu?“ und „Warum?“ der Technik und der technischen Machbarkeit, Fragen der Physik also im weitesten Sinn, beantworten sich niemals von selbst, sondern sind immer abhängig von zuvor gestellten Fragen der Meta-Physik, des Hintergrundes also der Physik und der oftmals verborgenen hintergründigen Absichten und Motive: Wozu und wem dient eine Brücke, ein Windrad, ein Giftgas, eine Atomwaffe, eine Landmine, eine Fleischfabrik, eine Massentierhaltung. Solche Fragen sind nüchtern und ohne Vorbehalte zu stellen und demokratisch zu diskutieren und dienen der umfassenden – der Vatikan sagt gern: der integralen – Verantwortung des Menschen für den Menschen, eine Verantwortung, die keineswegs am Garderobenhaken eines technischen Labors oder einer physikalischen Lehranstalt oder auch eines Bankinstitutes abgegeben werden kann. Anders gefragt: Was dient wirklich nachhaltig möglichst vielen Menschen – ideal: jedem zukünftig geborenen Menschen – und was dient demgegenüber nur kurzfristig einigen wenigen Lobbyisten?
Leider überwiegen oft kurzfristige ökonomische Interessen mit negativen Folgen für die Umwelt und das menschliche Dasein selbst. Bestimmend ist gerade in der Finanzwelt weiterhin oft die Suche nach Profit und Gewinn als Selbstzweck, und zwar mit Hilfe von Investitionen, die abgelöst von der Realwirtschaft sind. Das Bedürfnis vieler Investoren nach Minimierung der Risiken führt oft dazu, dass Darlehen nur an solche Personen oder Institutionen gegeben werden, die bereits Kapital besitzen, so dass in der Folge besonders bedürftige Personen und Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen bleiben. So wird aber, insbesondere in den Entwicklungsländern, der garstige Graben der Ungleichheit zwischen Kapitaleignern und Armen immer breiter und tiefer. Demgegenüber müssen gerade eine reiche Welt mit einer kraftvollen Wirtschaft der weltweiten existentiellen Armut ein Ende bereiten, selbst wenn relative Armut als Ausdruck von sozialer Ungleichheit immer bleiben wird und toleriert werden muß als Kollateralschaden der zu respektierenden Freiheit des Menschen, jedenfalls dann, wenn man dem totalitären System des Kommunismus oder Sozialismus weise und klug abgeschworen hat. Im Übrigen zeigt die Corona-Pandemie, wie zu diskutieren wäre über ein Wirtschaftssystem, das Wohlfahrt eher reduziert oder monopolisiert als umfassend vermehrt, wie auch über ein Finanzsystem, das große Spekulationen selbst im Blick auf Katastrophen erlaubt und sich wiederum gegen die Ärmsten der Armen wendet. Dies gilt vergleichsweise auch im Blick auf manche Regionen Südeuropas, in denen coronabedingt die Jugendarbeitslosigkeit wieder traurige Höchstmarken von 25 % und mehr erreicht, was auch, aber eben nicht nur mit Staatsversagen zu tun hat. Mittlerweile hat sich immerhin auch in Südeuropa herumgesprochen, daß Kurzarbeitergeld und duales Ausbildungssystem echte Exportschlager eines rheinischen Kapitalismus sind.
Nochmals zurück zu den nationalen und internationalen Finanzmärkten: Investoren können im Sinne des „impact investing“ (ethisches Investment) durchaus positive Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft begünstigen, also einen ethischen „impact“ einen Mehrwert oder ethischen Bonus verursachen. Das geschieht etwa, wenn sie aus ihren Investitionen solche Unternehmen ausschließen, die nicht gewissen ethischen Parametern und Kriterien entsprechen (Menschenrechte, Ausschluss und Verbot von Kinderarbeit, Ausschluss von Waffenproduktion, Schutz von Klima und Umwelt). Es ist zweifellos ermutigend zu sehen, wie einige Investmentfonds sich in dieser Richtung einer verantwortlichen Finanzwirtschaft positionieren. Zugleich geben einige Banken den Kunden Möglichkeit zu einem Investment, das diese ethischen Parameter und Kriterien erfüllt. Und einige an der Börse notierten Unternehmen zeigen vermehrt Bereitschaft zu ethisch nachhaltiger Aktivität, oftmals auf sanften Druck der Verbraucher und Kunden und nicht zuletzt der Presse hin. Ethische Filter und ethische Beratung werden zumal in den kirchlichen Banken (etwa Liga/Regensburg, Pax/Köln, Bank für Kirche und Caritas/Paderborn, Guttmann/Wien) bereitgestellt für diejenigen, die ethisch investieren wollen, im Einklang mit ihren eigenen religiösen Überzeugungen, auch wenn dies zuweilen einen verminderten Profit zur Folge hat. Es bedarf solcher ethischer Kriterien zur Bewertung von möglichst „ganzheitlichen“ finanziellen Investments, die damit Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit und nicht einzig Aussicht auf zukünftige schnelle Ausbeute und schnellen Profit im Blick haben.
Das Vatikan-Dokument nennt als weitere wichtige Maßnahmen unter anderem die Beschleunigung von Investments in nachhaltige Strukturen, national und supranational, sodann die Vermehrung von Investments der Entwicklungsbanken oder der im Entwicklungssektor tätigen Banken zugunsten und in Verbindung zur Realwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Inklusion (Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger, auch übrigens der Ungeborenen und zukünftig Geborenen), nicht zuletzt mit Hilfe von Mikrokrediten in Entwicklungsländern, um überhaupt den Aufbau von Mittelstand und Handwerkerschaft zu ermöglichen, schließlich die Schaffung von effizienten Kontrollinstanzen für Finanzmärkte und Finanzinstitutionen mit Blick auf das Gemeinwohl und eine wirklich ganzheitliche menschliche Entwicklung. Insgesamt ist auch die Finanzwirtschaft den Kriterien des globalen Gemeinwohles und der Nachhaltigkeit, also ethischen Grundsatzentscheidungen und Kriterien zu unterwerfen, damit eine integrale Entwicklung der Menschheit und wirklich jeder menschlichen Person ermöglicht wird. Dies freilich kann und wird dauerhaft und nachhaltig nur geschehen durch einen veränderten ökonomischen und finanziellen Lebensstil. Die noch lange nicht überwundene und beendete weltweite Corona-Krise gibt dazu nochmals ganz neue Impulse und bedenkenswerte Anregungen.