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Marco Schrage | April 2023

Herausforderungen der europäischen auswärtigen Sicherheitspolitik

Herausforderungen der europäischen auswärtigen Sicherheitspolitik[1]

Es ist mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden, dass wir in Europa, vor allem aber auf globaler Ebene in unsicheren Zeiten leben:

  • Sie sind im Sinne von Rahmenbedingungen verändernd unsicher, weil offensichtlich das entfallen ist, was die meisten europäischen Staaten in den vergangenen 30 Jahren für die internationalen Beziehungen erhofft hatten: nämlich das Etablieren von kooperativer Haltung und multilateraler Institutionalisierung.
  • Und sie sind auch im Sinne von rivalitäts- sowie konfliktaffin unsicher, weil sich in neuer Umgebung wieder eine ‚staatenanarchische‘ Welt – wie sie in den vergangenen Jahrhunderten üblich war – abzeichnet.

Die Versuchung ist groß, angesichts solcher Konstellationen zu einem von zwei Extremen zu neigen: So geraten manche in Aufregung und rufen nach neuen Orientierungsprinzipien sowie nach einer neuen Friedens- und Konfliktethik; dazu entgegengesetzt verschließen sich andere und beharren darauf, dass sich nichts geändert habe und es wie bisher weitergehen solle.

Demgegenüber hat Luigi Taparelli d’Azeglio SJ (1793–1862) als ‚Vater‘ der modernen katholischen Soziallehre sowohl wache Sensibilität für die Wirklichkeit samt ihrer steten Veränderungen als auch Verwurzelung in wenigen, tradierten und denkstrukturierenden Prinzipien gefordert und vertreten. Taparelli hat – im Vergleich zu heute – in nicht weniger bewegten Zeiten sein System entfaltet und seine zahlreichen Beiträge verfasst. Einprägsam und eingängig ist für unseren Zusammenhang sein Bild, dass Normen – im weiten Sinne ethischer Handlungsorientierungen – wie Ellipsen sind: Sie haben dementsprechend zwei Brennpunkte; der eine sind unsere Prinzipien, der andere das Geschehen/die Wirklichkeit. Da letzteres sich beständig verändert (und diese Veränderung sogar fundamental sein kann), befinden sich auch unsere Normen in steter Bewegung. Vor dieser Folie bedeuten prinzipiengelöstes Irrlichtern wie auch wirklichkeitsausblendende Sturheit, letztlich Dysfunktionalem anzuhängen.

Dementsprechend zeigt dieser Artikel anhand des von Taparelli für die moderne Welt grundgelegten und in der katholischen Sozialethik bis heute verbreiteten Zugangs in einfacher Weise einige Grundlinien auf. Im Anschluss an zwei Vorbemerkungen geht es in einem ersten, epistemischen Schritt in knapper Form um das Wahrnehmen wesentlicher Elemente der aktuellen Situation. Der folgende zweite, normative Schritt benennt sehr kompakt Grundprinzipien, die aus der Perspektive katholischer Soziallehre auf internationaler Ebene zu berücksichtigen sind. Hiervon ausgehend skizziert der dritte, präskriptive Schritt schließlich Anforderungen, denen die auswärtige EU-Sicherheitspolitik mit Blick auf das kontextualisierte Problemgeschehen entsprechen soll.[2]

1. Zwei Vorbemerkungen

Zum einen wird oft zwischen den Perspektiven unterschieden, die auf den Konflikt und die auf die im Anschluss an den Konflikt anzustrebende Friedensordnung fokussiert sind; eine Unterscheidung also gewissermaßen zwischen konflikt- und friedensethischem Zugang. So erforderlich diese ist, so sind beide nicht voneinander zu trennen: Denn konfliktethische Überlegungen, die das bestehende Übel wirklich überwinden wollen, können nicht davon absehen, auf eine Friedensordnung hingedacht zu sein; und friedensethische Reflexionen, die das bestehende Übel nicht überspringen wollen, können nicht umhin, die gegenwärtige Auseinandersetzung aufzunehmen. Die folgenden Ausführungen versuchen, dieses aufeinander Verwiesensein ernst zu nehmen.

Zum anderen ist zwischen Organisationen und Systemen kollektiver Sicherheit einerseits und ‚partikularen‘ Akteuren – darunter Staaten, Staatenverbünde und internationale Organisationen – andererseits zu unterscheiden. Die ersten versuchen – vor allem auf globaler (Vereinte Nationen) oder kontinentaler Ebene (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE) –, mittels alle einbeziehender institutionalisierter Prozesse Frieden zu konsolidieren: In einem schlichten Bild ausgedrückt, soll bei diesen Zugängen auf ‚ein allen gemeinsames Innen‘ gesehen werden. Demgegenüber befinden sich Zugänge, die nicht von solch ‚inklusiven‘ Prozessen ausgehen, gewissermaßen auf einer Stufe davor. Dabei versuchen verschiedene ‚partikulare‘ Akteure Frieden in dem sie verbindenden Umfeld zu konsolidieren: Ebenfalls sehr einfach verbildlicht, sieht man auf ‚ein alle verbindendes Außen‘. Die folgenden Erörterungen fokussieren nicht das gebotene Handeln innerhalb eines Zugangs kollektiver Sicherheit, sondern nehmen das gebotene auswärtige Handeln für die in der EU zusammengeschlossenen mittel- und westeuropäischen Staaten in den Blick, also für ‚partikulare‘ Akteure, die nach Außen sehen.

2. Epistemische Ebene: Was geschieht?[3]

Auch wenn es sich um geradezu Triviales handelt, ist es eingangs sinnvoll zu betonen, dass das, was wir seit dem Beginn der massiven russischen Truppenkonzentrationen entlang der Grenze zur Ukraine sowie der anschließenden Invasion beobachten, keineswegs aus dem Nichts entstanden und etwas ‚ganz Neues‘ ist. Vielmehr sind dadurch für die große Öffentlichkeit Konstellationen und Friktionen offensichtlich und unmittelbar geworden, zu denen es durch lange Entwicklungen gekommen ist.

Sehr grob umrissen besteht dieses Szenario darin, dass die Welt des beginnenden 21. Jahrhunderts zunehmend von zwei rivalisierenden Hegemonen, den USA und China, geprägt wird. Sie spielen militär- und wirtschaftspolitisch in einer eigenen Liga und bewegen sich untereinander mehr und mehr auf Augenhöhe. Den EU-Staaten und Großbritannien ist bewusst, dass sie demgegenüber – selbst alle zusammengenommen (!) – nur in der zweiten Reihe stehen. Russland ist hingegen nicht bereit, ebendies auch für sich zu akzeptieren.

Dessen ungeachtet, werden zudem sowohl Russland als auch die EU-Staaten und Großbritannien durch den gegenwärtigen militärischen und wirtschaftlichen Konflikt stärker geschwächt als dies bei den beiden Hegemonen der Fall ist. Bevor wir die militärische Situation in der Ukraine fokussieren und die damit einhergehende starke Beeinträchtigung Russlands deutlich wird, sei daher daran erinnert, dass die europäischen Staaten – mit bloß graduellen Unterschieden – dreifach unter Druck geraten sind: Erstens erwarten die USA zu Recht, dass die europäischen NATO-Mitglieder aus eigenen Ressourcen und mit eigenen Mitteln für ihre Sicherheit auf dem europäischen Kontinent sorgen können; zweitens müssen die Mittel- und Westeuropäer ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von China deutlich verringern und große europäische Konzerne dementsprechend ihr Engagement in einem lukrativen Markt aus einem Sicherheitskalkül heraus reduzieren; drittens ist durch Russland ein großer Teil der Belieferung mit preisgünstigen Energieträgern entfallen. Dies alles summiert sich zu einer großen wirtschaftlichen Belastung.

Hinsichtlich des direkten Konfliktgeschehens in der Ukraine besteht nach dreizehn Monaten bewaffneter Konfrontation seit vier Monaten – durch die kalten Wintermonate hindurch – ein Stillstand in großem Maßstab (Stand Ende März 2023): Nach zwei größeren Frontverschiebungen aufgrund russischer Rückzüge bei Charkiw und Cherson stehen sich im Nordosten, insbesondere im Oblast Donezk, wo sich seit Beginn der Kämpfe der stabilste Frontverlauf befindet, die am besten ausgebauten Verteidigungsstellungen gegenüber, während ganz im Südwesten der untere Verlauf des Dnepr – als breiter Strom – mehr als ein Drittel der Länge der gesamten Front ausmacht.

Die russische Armee hat in den vergangenen Monaten zunehmend die Initiative im Konfliktgeschehen verloren und ist – nach dem ersten großen Rückzug aus der Region Kiew schon im Frühjahr 2022 – im Herbst 2022 auch zu erheblichen Gebietsaufgaben im Süden und Osten der Ukraine gezwungen gewesen. Zum seit Beginn der Auseinandersetzung bei vielen russischen Soldaten vorhandenen großen Motivationsdefizit hat sich im Verlauf des Konfliktgeschehens ein zweites Problem gesellt: Das Ersetzen ausfallender Berufssoldaten durch Neurekrutierte führt zu einem kontinuierlichen militärischen Qualitätsverlust. Das Bemühen, ehemalige Spezialkräfte der afghanischen Armee zu rekrutieren, ist dafür ein beredtes Zeugnis. Auch hinsichtlich der Waffensysteme stehen die russischen Streitkräfte vor großen Herausforderungen. Insbesondere beginnt sich das Reservoir einsetzbarer Kampfpanzer zu erschöpfen, und es müssen Präzisionswaffen wie Marschflugkörper zurückgehalten werden, da sie nicht mehr ausreichend nachproduziert werden können; der Ankauf von Kampfpanzern aus Weißrussland, von Kamikazedrohnen aus dem Iran sowie großer Mengen an Raketen aus Nordkorea ist in dieser Hinsicht aufschlussreich.

Die Situation gestaltet sich auf ukrainischer Seite etwas anders. Dort stellt die Frage der Motivation in den Verbänden ein erheblich kleineres Problem dar und was wirkungsvolle Waffensysteme angeht, so lebt die ukrainische Armee ganz von der Versorgung durch die USA und verschiedene europäische Staaten. Die große Bürde besteht im großen Verlust an kampferprobten Soldaten sowie im Ausfall der Infrastruktur für die Daseinsvorsorge in katastrophalem Ausmaß während der Wintermonate.

Vor diesem Hintergrund ist seit Winter 2022/23 und wohl auch für einige Zeit darüber hinaus ein verbissener Stellungs- und Abnutzungskampf mit geringeren Frontveränderungen wahrscheinlich. Ob dieser sich dann mehr einem ‚eingefrorenen‘ Konflikt oder mehr den Schlachtfeldern vergangener Zeiten annähert, das bleibt abzuwarten.

Es ist derzeit nicht naheliegend, dass die beiden Kontrahenten durch erheblichen auswärtigen Druck zu Verhandlungen gezwungen werden. Ein Interesse der USA im russisch-ukrainischen Krieg ist – nach dessen unerwünschtem Ausbruch – nämlich, dass Russland so weit wie möglich geschwächt und womöglich vielleicht sogar destabilisiert wird. In einem sehr saloppen, aber mittlerweile gängigen Bild: Putin hat die Hand im Mixer und man sieht gar keinen Grund, das Gerät abzustellen. Die USA haben daher kein besonderes Interesse daran, massiven Druck auf die Ukraine auszuüben, den bewaffneten Konflikt zu beenden, solange eine vernünftige Aussicht besteht, dass diese militärisch standhalten kann. Und China erkennt im Geschehen ebenfalls eigene Interessen, da Russland immer schwächer und abhängiger wird, dadurch zunehmend als eigenständiger Rivale ausfällt und stattdessen in den eigenen Einflussbereich gezogen wird. Auch China hat daher kein besonderes Interesse daran, Russland zum Beenden des bewaffneten Konflikts zu bewegen, solange weder ein Kollaps Russlands bevorsteht noch dieses eine unhaltbare Kriegsführungseskalation begeht.

Wer vorgibt zu wissen, wie sich die Zukunft entwickelt, ist ein Blender. In Bescheidenheit können wir bloß von wahrscheinlicheren und weniger wahrscheinlichen Entwicklungen sprechen. Unter dieser Prämisse kommen wir am Ende also zu folgender Synthese: Es ist keineswegs unplausibel, dass wir auf den Antagonismus zwischen einer nordamerikanisch-europäischen Allianz[4] und einem chinesisch-russischen Lager zulaufen, wobei auf den europäischen ‚Juniorpartner‘ perspektivisch die Aufgabe zukommen und von ihm die Fähigkeit erwartet werden wird, aus eigenen Ressourcen und mit eigenen Mitteln mit dem russischen ‚Juniorpartner‘ umzugehen, soweit es den europäischen oder afrikanischen Kontinent betrifft.

3. Normative Ebene: Wonach urteilen?

Die Grundanlage der katholischen Soziallehre hinsichtlich der internationalen Beziehungen lässt sich konzise zusammenfassen. Ihre – bis heute freilich weiter ausdifferenzierte, prinzipiell aber nicht geänderte – Skizze findet sich schon vor fast 200 Jahren bei Luigi Taparelli d’Azeglio.[5]

Zunächst gilt als Zweck eines Gemeinwesens, einem jeden der zu ihm gehörenden Individuen die bestmögliche Entfaltung zu eröffnen; in Form von Möglichkeitsbedingungen für ein gutes – das heißt erfülltes und tugendhaftes – Leben.[6] Der hierfür verwendete Begriff ist jener des Gemeinwohls als Dienstwert. Zwei moderne Wege, das Gemeinwohl als Dienstwert etwas zu konkretisieren, sind, es in Innere Ordnung und Wohlfahrt sowie äußere Sicherheit aufzuschlüsseln; oder aber in Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseinsvorsorge. Taparelli sprach diesbezüglich von „sicherndem Schutz“ und „kooperativer Aktivität“ beziehungsweise ein wenig abgewandelt davon, das individuelle Handeln „zu schützen“ und „zu vervollkommnen“.[7] Gemeinwohlausgerichtetes Handeln besteht also zum einen im Schutz der Individuen wie auch etwaiger Gliedgemeinwesen vor Rechtsbrüchen, die ihren Ursprung sowohl im Inneren wie im Äußeren haben können, sowie zum anderen im Bereitstellen jener aufwändigen Vorhaben und großen Werke, auf die alle Einwohner zurückgreifen können müssen oder können sollen, zu deren Verwirklichung Individuen beziehungsweise etwaige Gliedgemeinwesen allein aber nicht über die nötigen Mittel verfügen.

Was des Weiteren die Beziehungen zwischen untereinander gleichgestellten Gemeinwesen betrifft, so soll deren Fundament – gewissermaßen analog zum Fundament des Miteinanders auf individueller Ebene – das gegenseitige Wollen des Wohls der Anderen sein. Dementsprechend ist das normative Verhältnis zwischen der Reflexion über Frieden und über Krieg (gemeint ist ein internationaler bewaffneter Konflikt) jenes von leitbildhafter Regel und konfliktfallorientierter Ausnahme.

Im Rahmen dieser Grundanlage ist mit Blick auf den Frieden die verantwortliche Autorität eines jeden Gemeinwesens folglich zum einen gehalten, das Gemeinwohl zu erkennen, zu wollen und zu verwirklichen – kurz: gemeinwohlorientiert zu handeln –, und zum anderen, die Haltungen anderer Gemeinwesen dem eigenen Gemeinwesen gegenüber zu erfassen. Ebenso gehört dazu, dass sich die Gemeinwesen durch ihre Beziehungen beim Wahrnehmen dieser beiden Verpflichtungen gegenseitig beraten und unterstützen sollen, dass sie also je gemeinwohlorientiert handeln sowie die Haltungen anderer Gemeinwesen dem je eigenen gegenüber erfassen.[8]

Auch mit Blick auf einen Krieg – verstanden als bloße Reaktion auf eine bewaffnete Aggression von außen – ist für Autoritäten eines Gemeinwesens, denen der Schutz der Individuen anvertraut ist, das Prinzip des Wohlwollens der entscheidende hermeneutische Schlüssel. Es ist die Richtschnur, anhand derer Gewalttätigkeit minimiert und überwunden werden soll; kein Verhalten, weder Tun noch Unterlassen, darf demnach Einladung oder Katalysator zur Gewaltanwendung sein. Aggressions- und Unterdrückungssituationen fordern dementsprechend dazu heraus, Stellung zu beziehen. Dann können Spannung und Gewalt im Verhältnis zu Aggression und Unterdrückung das geringere Übel sein, dann kann es sein, dass das Durchbrechen von Eigendynamik und Eskalation der Gewalttätigkeit, dass das Überwinden der Gewalttätigkeit gerade nicht durch Gewaltlosigkeit, sondern durch die begrenzte Anwendung von Gewalt zu erreichen ist. Es ist also weder automatisch richtig, sich gegen einen bewaffneten Angriff militärisch zur Wehr zu setzen, noch dies nicht zu tun.[9]

Nur über die Beziehungen zwischen untereinander gleichgestellten Gemeinwesen im Frieden und im Krieg zu reflektieren, genügt für Taparelli jedoch nicht:[10] Eine seiner beachtenswertesten Gedankenspitzen ist, klar zu erkennen, dass Staaten als einzelne immer weniger in der Lage sind, die Ordnung eigenständig zu wahren, da sie immer mehr miteinander vernetzt sind und sich auch Ereignisse aus weit entfernten Ländern auf sie auswirken. Um eine gute Ordnung gewähren zu können, ist es daher für die einzelnen Staaten erforderlich, ihr Vorgehen miteinander zu koordinieren; und zwar nicht bloß situativ, sondern in institutionalisierter Weise. Hierzu sollen sie eine Staaten-Gesellschaft bilden, die sowohl in jener verflechtungsbedingten Notwendigkeit als auch im freien Willensentschluss der Mitgliedstaaten gründet. Diese Gesellschaft ersetzt oder vereinnahmt die Mitgliedstaaten nicht, denn es handelt sich nicht um einen ‚Staat höherer Ordnung‘; vielmehr bleiben die gleichberechtigten Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit der Souverän dieser Gesellschaft, deren Hauptaufgabe es ist, die innere Einheit wie die äußere Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten zu wahren. Kurz: Während sich das von den einzelnen Staaten zu verwirklichende Gemeinwohl auf die äußeren Möglichkeitsbedingungen für das individuelle Verwirklichen des guten Lebens durch ihre jeweiligen Einwohner bezieht, ist das von der Staaten-Gesellschaft zu verwirklichende Gemeinwohl analog dazu das Gewähren einer Ordnung, in der die Mitgliedstaaten ihren Aufgaben nachkommen können.[11]

4. Präskriptive Ebene: Wie handeln?

Im Anschluss an den epistemischen und den normativen Schritt gilt es nun die Anforderungen zu skizzieren, denen die auswärtige EU-Sicherheitspolitik entsprechen soll. Für die bevorstehenden Jahre sollte sie als räumlich begrenzter Beitrag des ‚Juniorpartners‘ innerhalb der nordamerikanisch-europäischen Allianz zu dessen auswärtiger Sicherheitspolitik globalen Ausgriffs verstanden werden: In diesem arbeitsteiligen Sinne würden sich die EU-Staaten und Großbritannien zwar auf Europa und Afrika fokussieren dürfen, im Gegenzug dafür aber müssten sie auch in der Lage sein, die dortigen Herausforderungen ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Dass dies gegenwärtig geradezu utopisch anmutet, darf nicht zu Resignation führen, sondern muss stattdessen das Bewusstsein für die Notwendigkeit wecken, sicherheitspolitische Fähigkeiten in für die meisten EU-Staaten und erst recht für die EU selbst ganz neuen Größenordnungen zu schaffen.

Dabei handelt es sich keineswegs um eine Konkurrenz zur oder gar ein Verdrängen der NATO. Diese bleibt für die Verteidigung des Gebiets sämtlicher zum Bündnis gehörender Staaten im engeren Sinn der einzige Bezugspunkt hinsichtlich politischer wie militärischer Aspekte; zugleich beschränkt sie sich auch auf dieses Kernanliegen und enthält sich als Organisation dementsprechend aller Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets. Die auswärtige EU-Sicherheitspolitik ist also als das nötige Komplement zur NATO zu verstehen, indem sie deren auf das nähere und weitere EU-Umfeld ausgerichtete, dort auf Frieden und Sicherheit abzielende Ergänzung ist.

Auf diesem Feld, also gegenüber benachbarten Staaten, kommen ihr keinerlei exekutive Befugnisse zu; die Kompetenz, einschlägige Entscheidungen zu treffen und die in ihrer Perspektive jeweils richtigen Ausprägungen zu gestalten, bleibt immer bei den zuständigen Stellen der unmittelbar betroffenen Staaten – bei den Autoritäten der jeweiligen Gemeinwesen. Die EU-Sicherheitspolitik darf also nur beratend und unterstützend tätig werden. Prinzipiell ist sie gegenwärtig auch so konzipiert und wirkt in zahlreichen EU-Missionen auf diese Weise; das Vorstehende ist insoweit also nichts grundsätzlich Neues. Neu ist heute jedoch die Größenordnung, der die EU-Sicherheitspolitik zu entsprechen hat, und neu ist der Umfang der dafür benötigten Fähigkeiten. Denn die aktuell bestehende Instabilität und die zu adressierende Gefahr haben eine viel höhere Intensität als in den Fällen, in denen sich die EU bislang engagiert hat: Anders als bei Krisen, auf die EU-Missionen in der Vergangenheit zu antworten hatten, handelt es sich um ein Konfliktgeschehen, das sowohl nah ist als auch eine große Dimension hat.[12] Hiervon ausgehend können Anforderungen allgemeinerer wie konkreterer Art formuliert werden.

Eine ‚Armee der Europäer‘

In allgemeiner Hinsicht ist die adäquate Ausweitung der in der EU keimhaft schon angelegten militärischen Strukturen geboten: 2017 ist aus dem winzigen Militärstab der EU ein noch kleinerer Planungs- und Durchführungsstab ausgegliedert worden, der perspektivisch das militärische Hauptquartier der EU werden sollte: Diese Weiterentwicklung ist jetzt nötig. Eine ‚europäische Armee‘ ist für die EU zwar nicht erkennbar;[13] anzustreben ist aber eine ‚Armee der Europäer‘. Dies ist auf der Grundlage des Prinzips der Trennung zwischen Bereitstellung und Einsatz der militärischen Einheiten durchaus möglich.[14] Die Bereitstellung (Aufstellen, Ausbilden und Ausrüsten) verbleibt ganz in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten; die Militärstrukturen der Unionsebene übernehmen hingegen die Einsatzführung, insoweit es sich um EU-Missionen handelt. Voraussetzung dafür, nicht bloß Missionen bisheriger Stärke, sondern auch solche sehr großen Umfangs durchführen zu können, ist allerdings eine dauerhaft sehr eng aufeinander abgestimmte und miteinander kontinuierlich umgesetzte Planung auf Ebene der Mitgliedstaaten, sodass die Streitkräfte der einzelnen EU-Staaten zusammengenommen tatsächlich ein organisches Ganzes darstellen, das sämtliche Fähigkeiten interoperabel zur Verfügung stellen kann.[15]

Doppelte Gemeinwohlorientierung

Im Blick auf den konkreten Konflikt steht für die EU zweierlei im Vordergrund. Zum einen hinsichtlich der eigenen Bevölkerung gemeinwohlorientiert zu handeln und zum anderen die Autoritäten der Ukraine darin zu beraten und zu unterstützen, dass sie gemeinwohlorientiert hinsichtlich der Bevölkerung ihres Landes handeln. In beiden Fällen ist auch für das Treffen schwerer Entscheidungen in der Situation des politischen und wirtschaftlichen Konflikts beziehungsweise des bewaffneten Konflikts der hermeneutische Schlüssel das Prinzip des Wohlwollens.

Was das Beraten und Unterstützen der Ukraine betrifft, so kann die Unterstützung im zivilen Bereich in allen Formen erbracht werden; im militärischen Bereich kommen in erster Linie das Liefern von Waffen und Ausrüstung sowie das Ausbilden ukrainischer Einheiten in großem Maßstab in Betracht. Dessen Ziel ist es, ein Erschöpfungsgleichgewicht zwischen beiden Konfliktparteien zu erreichen: ein Patt, das die Konfliktparteien durch konventionelle Eskalation ganz offensichtlich nicht mehr aufbrechen und zudem nur unter extremem Aufwand halten können. Mit einer solchen Unterstützung einhergehend ist die Ukraine anzuhalten, für künftige Verhandlungen bereit zu sein. Sowohl zu unterstützen als auch dazu anzuhalten zum angemessenen Zeitpunkt zu verhandeln, schließt sich nämlich nicht aus, vielmehr ergänzt es sich erst gegenseitig: Denn eine Verhandlungslösung wird in diesem bewaffneten Konflikt nicht auf Vertrauen beruhen, sondern darauf, dass beide Parteien zur Erkenntnis von Aussichts- und Alternativlosigkeit kommen. Um diese zu erreichen, ist es nötig, dass sich ein Erschöpfungsgleichgewicht einstellt. Erst dann kann es durch höchst geheime Gespräche möglich werden, zu einem für beide Seiten akzeptablen minus malum zu gelangen.

Grenzen beachten

Ihre Grenze findet die Unterstützung sodann darin, dass die EU-Bevölkerung weder in einer Weise betroffen werden und leiden darf wie die ukrainische noch darf es zu einer offensichtlichen Verschlechterung der Gesamtsituation kommen. Dies sei knapp erläutert.

Einerseits darf diese Grenze keinesfalls aus dem Blick verloren werden. So darf die EU eine unmittelbare militärische Konfrontation mit Russland weder beabsichtigen noch billigend in Kauf nehmen. Des Weiteren muss sie eine dauerhafte Offenheit für ehrliche Gespräche auch mit Russland wahren und bereit sein, mit seinen politischen Entscheidungsträgern einen direkten Austausch zu pflegen. Schließlich hat sie in friedensorientierter Perspektive dafür einzustehen, dass ein geopolitisch stark bedrängtes Russland zu einem kollektiven Sicherheitsverlust führt, was kontraproduktiv ist.

Andererseits ist diese Grenze eine sehr weite. Dies lässt sich mit einem kontrafaktischen Szenario konzise verdeutlichen: Würde die Ukraine unterliegen, in ihrer bisherigen Form aufhören zu existieren und das Leben auf ihrem Territorium künftig beispielsweise zum Teil in einem totalitären Vasallenstaat (vgl. Weißrussland) und zum Teil unter repressiver Fremdherrschaft (vgl. ‚Republiken‘ Donezk und Luhansk) erfolgen, wären die EU-Staaten in ihrer Gesamtheit verpflichtet, alle Ukrainer aufzunehmen und zu integrieren, die davor fliehen oder vertrieben werden; selbst wenn sich kein einziger Drittstaat daran beteiligen wollte, rein theoretisch also bis zu 40 Millionen Personen.[16] Eine selbstregierte und sich verteidigende ukrainische Bevölkerung eben darin zu unterstützen, ist nicht nur aus Sicht der Ukrainer die bevorzugte Alternative, sondern auch aus der Sicht der EU-Bevölkerung die zu bevorzugende, denn diese profitiert von der Selbstverteidigung der Ukrainer: in den an (Weiß-)Russland angrenzenden EU-Staaten in unmittelbarer Weise, hinsichtlich der Unversehrtheit des eigenen Territoriums, und in allen anderen EU-Staaten in mittelbarer Weise, hinsichtlich der Geltung der internationalen Ordnung. Folglich können Belastungen, die durch die Unterstützung einer selbstregierten und sich verteidigenden ukrainischen Bevölkerung entstehen, für die EU-Bevölkerung zumindest bis zu einem Gesamtumfang begründet sein, der der Aufnahme und Integration der gesamten ukrainischen Bevölkerung entsprechen würde.

Vorrang gewähren

Innerhalb dieses vorstehenden Rahmens soll die EU zudem dem auf die dortige Bevölkerung ausgerichteten gemeinwohlorientierten Handeln der ukrainischen Autoritäten den Vorrang geben. Denn der Primat des bestmöglichen Handelns hinsichtlich der EU-Bevölkerung könnte unangemessene, unzumutbare Lasten für die Einzelnen in der Ukraine zur Folge haben, während – innerhalb des genannten Rahmens freilich – der Primat des bestmöglichen Handelns hinsichtlich der ukrainischen Bevölkerung im Verhältnis bloß geringe Lasten für die Einzelnen in der EU mit sich bringt.

Zum einen schließt diese Priorisierung aus, dass die Ukraine zum Verzicht auf die besetzten Gebiete genötigt oder gar ‚aufgegeben‘ wird und es dadurch zu einer katalysierenden Wirkung für weitere Aggressionen kommt; ebenso schließt sie aus, dass die Ukraine ‚instrumentalisiert‘ und so mittels einer für sie nicht erforderlichen oder unangemessenen Kampfführung versucht wird, Russland zu schwächen.

Zum anderen führt eine solche Priorisierung dazu, dass ein – durchaus beratenes, aber selbstbestimmtes – gemeinwohlorientiertes Handeln der ukrainischen Autoritäten hinsichtlich ihrer Bevölkerung mittelbar auch der EU zugutekommt – gewissermaßen in Form eines ‚Kollateralnutzens‘.

5. Resümee

Zum Abschluss seien noch einmal die Kernelemente der hier ausgeführten, in ihrer Gesamtanlage recht knappen Reflexion zur militärischen Invasion in der Ukraine und dem internationalen Kontext zusammengefasst:

Ihr liegt die Überzeugung zu Grunde, dass es sowohl eines wachen Blicks für die stets veränderliche Wirklichkeit als auch der Verwurzelung in tradierten Kernprinzipien bedarf. Da des Weiteren ein effektives Wirken von ‚inklusiven‘ Systemen kollektiver Sicherheit in nächster Zeit für unwahrscheinlich gehalten wird, gilt das Augenmerk den ethischen Anforderungen, denen die EU in einem ‚staatenanarchischen‘ Umfeld als ‚partikularer‘ Akteur entsprechen soll.

Davon ausgehend besteht die prinzipiengeleitete Reflexion in ihrem Hauptteil aus drei Schritten, einem epistemischen, einem normativen und einem präskriptiven.

Auf der epistemischen Ebene geht es darum, sich um ein gutes Wahrnehmen der wesentlichen Elemente der aktuellen Situation, der militärischen Invasion in der Ukraine und dem internationalen Kontext zu mühen: Diesbezüglich ist es nicht unplausibel anzunehmen, dass es zu einem Antagonismus zwischen einer nordamerikanisch-europäischen Allianz und einem chinesisch-russischen Lager kommen und innerhalb der ersten vom europäischen ‚Juniorpartner‘ erwartet werden wird, die Fähigkeiten zu haben, in Europa und Afrika aus eigenen Ressourcen und mit eigenen Mitteln, mit dem russischen ‚Juniorpartner‘ umgehen zu können.

Die normative Ebene führt Grundprinzipien an, die aus Perspektive katholischer Sozialethik – von Luigi Taparelli d’Azeglio grundgelegt und in der Folgezeit immer weiter ausdifferenziert – für die internationalen Beziehungen zu berücksichtigen sind. Hier steht im Mittelpunkt: Erstens, dass ein jedes Gemeinwesen hinsichtlich der zu ihm gehörenden Individuen gemeinwohlorientiert handeln und es die Haltungen anderer Gemeinwesen dem eigenen gegenüber erfassen soll; zweitens, dass sich die Gemeinwesen durch ihre Beziehungen beim Wahrnehmen dieser beiden Verpflichtungen gegenseitig beraten und unterstützen sollen; drittens, dass einzelne Staaten angesichts ihrer hinsichtlich des Vorstehenden immer unzulänglicher werdenden Möglichkeiten eine Staaten-Gesellschaft bilden sollen, die ihrerseits auf das Gewähren einer Ordnung zielt, in der die Staaten ihren Aufgaben nachkommen können.

Auf der präskriptiven Ebene werden schließlich Anforderungen skizziert, denen die auswärtige EU-Sicherheitspolitik mit Blick auf die im ersten Schritt umrissene Situation entsprechen soll. In dieser Hinsicht wird vertreten, dass die EU mit ihrer – als Komplement zur NATO als reiner Verteidigungsgemeinschaft verstandenen – auswärtigen Sicherheitspolitik im näheren und weiteren EU-Umfeld auf Frieden und Sicherheit abzielen muss und hierzu zum einen ihre eigenen militärischen Strukturen in Form einer auf dem Prinzip der Trennung von Bereitstellung und Einsatz gründenden ‚Armee der Europäer‘ erheblich ausbauen muss. Zum anderen hat sie beim Beraten und Unterstützen der Ukraine – innerhalb eines schwere Nachteile für die EU-Bevölkerung ausschließenden Rahmens – dem gemeinwohlorientierten Handeln der ukrainischen Autoritäten, das auf die dortige Bevölkerung ausgerichtet ist, den Vorrang zu geben: Denn ein solches kommt, gewissermaßen in Form eines ‚Kollateralnutzens‘, mittelbar auch der EU-Bevölkerung zugute.

Anmerkungen

[1]     Dieser Beitrag ist eine leicht erweiterte Fassung des Artikels „Die militärische Invasion in der Ukraine und der internationale Kontext als Herausforderung für die auswärtige EU-Sicherheitspolitik“, in: Theologisch-praktische Quartalsschrift 171 (2023) 54-62. Er ist nicht in dienstlicher Eigenschaft verfasst und gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.

[2]     Eine kriteriengeleitete Reflexion zur Selbstverteidigung der Ukraine – die den hier ausgeführten Überlegungen gedanklich gewissermaßen vorgelagert ist – bietet Marco Schrage, Die Selbstverteidigung der Ukraine – einige konfliktethische Aspekte, in: Amosinternational 17 (2023) Nr. 2 (im Druck).

[3]     Dieser aktuelle Entwicklungen betreffende Abschnitt schöpft aus verschiedenen Quellen, die die derzeitigen Ereignisse sowie den vorausgehenden und rahmenden Kontext beleuchten. Explizit genannt und empfohlen seien die „Ukraine Conflict Updates des Institute for the Study of War (https://www.understandingwar.org/backgrounder/ukraine-conflict-updates [20.3.2023]) für das tägliche Konfliktgeschehen; das Dossier „Krieg in der Ukraine“ der Neuen Züricher Zeitung (https://www.nzz.ch/international/krieg-gegen-die-ukraine [20.3.2023]), das im deutschsprachigen Raum hinsichtlich aktualitätsnaher Kontextualisierungen hervorsticht; die „Briefs“ und „Reports zum Bereich „Defense and Security“ des Center for Strategic & International Studies (https://www.csis.org/search [20.3.2023]) für Kontextualisierungen im größeren Horizont.

[4]     Präziser, aber deutlich sperriger wäre es, von einer Allianz zu sprechen, die Nordamerika sowie dessen europäische, pazifische und ozeanische Verbündete umfasst.

[5]     Siehe insbesondere Luigi Taparelli d’Azeglio, Saggio teoretico di dritto naturale appoggiato sul fatto, Roma 41855, Nr. 1250-1307. Taparelli war Lehrer Papst Leos XIII., des Begründers der modernen katholischen Soziallehre.

[6]     Ein solches auch tatsächlich zu führen, obliegt aber letztlich individueller Verantwortung.

[7]     Vgl. Taparelli, Saggio teoretico…, Nr. 728 beziehungsweise Nr. 990 und 1045.

[8]     Für einen detaillierteren Zugang zu dem in den vorstehenden Absätzen Erörterten und weitere Hinweise auf einschlägige Literatur siehe Marco Schrage, Luigi Taparellis naturrechtlicher Entwurf einer weltweiten Friedensordnung, in: Theologie und Philosophie 94 (2019) 367-402, hier: 378-381, 389-393.

[9]     Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Absatz Erörterten samt weiterer Hinweise auf einschlägige Sekundärliteratur siehe Marco Schrage, Intervention in Libyen. Eine Bewertung der multilateralen militärischen Intervention zu humanitären Zwecken aus Sicht katholischer Friedensethik, Münster 2016, 213-221; ders., Friedens- und Konfliktethik. Ein Grundriss, Opladen 2022, 144-152.

[10]    Siehe für die Ausführungen zu der von ihm skizzierten und mit „Ethnarchie“ benannten Staaten-Gesellschaft Taparelli, Saggio teoretico…, Nr. 1356-1400.

[11]    Für einen detaillierteren Zugang zu dem in diesem Absatz Erörterten siehe Schrage, Luigi Taparellis naturrechtlicher Entwurf…, 393-396.

[12]    Entscheidend ist die Kombination aus Nähe, Dimension und Konfliktbeteiligten. Hinsichtlich der Dimension gibt es auf dem afrikanischen Kontinent derzeit bewaffnete Konflikte, die noch erbarmungsloser sind und noch mehr Tote und Verletzte fordern als jener in der Ukraine; beispielhaft sei lediglich der Bürgerkrieg in Äthiopien genannt.

[13]    Die EU ist auf absehbare Zukunft kein Bundesstaat, in dem die Bundesebene über die ausschließliche Kompetenz für die Außen- und Sicherheitspolitik verfügt, sondern ein Staatenverbund, in dem der Unionsebene Kompetenzen gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zukommen und die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge sind.

[14]    Als Beispiel können die Streitkräfte der USA angeführt werden, in denen die Bereitstellung den verschiedenen Teilstreitkräften obliegt, die Einsatzführung aber den Unified Combatant Commands.

[15]    Die Coordinated Annual Review on Defense (CARD), die Permanent Structured Cooperation (PESCO) und der European Defense Fund (EDF) seien, effektiv seit 2017, als ein diesbezüglich keimhafter Anfang genannt.

[16]    Für eine abstrakte Überlegung bezüglich hinzunehmender Belastungen sei auf Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 21994, 315-334 verwiesen. Singers Ausführungen sind für die Migration in ihrer Gesamtheit zwar gerade nicht einschlägig, für den speziellen Bereich von Flucht und Vertreibung sind sie jedoch anschaulich und hilfreich.

Der Verfasser

Marco Schrage, geboren 1975, ist nach dem Studium der Italianistik und Rechtswissenschaft sowie der Philosophie und Theologie mit einer sozialethischen Arbeit promoviert worden. Nach vier Jahren als wissenschaftlicher Projektleiter am Institut für Theologie und Frieden (IThF), Hamburg, ist er seit September 2022 Beamter der Kurie des Heiligen Stuhls und Research Fellow am IThF.