Lars Schäfers | 06. Oktober 2021

Katholische Soziallehre für die 2020er Jahre

Politisch-ethische Perspektiven auf die neue Legislaturperiode

Wir befinden uns in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts. Die Welt steht noch am Beginn einer Dekade, in der nicht wenige Weichen für den weiteren Verlauf dieses Jahrhunderts gestellt werden. Dies gilt mit Blick auf die Zukunft Deutschlands vor allem für die nun bevorstehende Legislaturperiode 2021 bis 2025. Zunächst muss nach wie vor die Coronapandemie in globaler Perspektive bewältigt werden. Gleichzeitig drängt sich angesichts auch hierzulande zunehmender Wetterextreme und Katastrophen immer stärker die Frage nach der richtigen Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation zur Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise auf.

Als wäre dies noch nicht Herausforderung genug, befindet sich die demokratische Kultur auch in westlichen Ländern in einem fragilen Zustand das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) ist schon lange abgesagt. Weltweit erstarken populistische, autokratische Regime. Der Multilateralismus scheint auch nach der Trump-Ära weiterhin geschwächt und China wird als wirtschaftlich erfolgreicher Gegenentwurf zur liberalen Demokratie bedrohlicher. Als weitere einflussreiche Trends, Problemlagen und kulturelle Veränderungen der nächsten Zeit sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen Globalisierung bzw. Glokalisierung, wachsende soziale Ungleichheiten, Terrorismus, Extremismus und Fundamentalismus, alte und neue Kriege und Konflikte, weiter zunehmende weltweite Migration, die weitere Medialisierung und Digitalisierung von Gesellschaft und Lebenswelt sowie die Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz, die zunehmende Alterung der Gesellschaft, der Einsatz für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Minderheiten, New Work sowie die weitergehende Pluralisierung der Lebens- und Familienformen. Diese Phänomene und Trends fordern die Politik auf allen Ebenen heraus.

Theologisch gesprochen sind dies die Zeichen der Zeit (vgl. Gaudium et spes, Nr. 4) der neuen 20er Jahre. Für Christinnen und Christen gilt es, sie im Licht des Evangeliums zu deuten. Für diese Deutungsarbeit hatte die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) im Vorfeld der diesjährigen Wahlen zum 20. Deutschen Bundestag einen Wahlprogramm-Check auf Basis der katholischen Soziallehre vorgelegt. Was aber kann die katholische Soziallehre mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen und Problemlagen beitragen?

Katholische Soziallehre ist die traditionelle Bezeichnung für das Gesamtgefüge katholisch-kirchlicher Sozialverkündigung sowie deren Interpretation, kritische Begleitung und Weiterführung im Rahmen wissenschaftlicher Reflexion der Christlichen Sozialethik. Methodisch basiert die katholische Soziallehre nach wie vor zumeist auf dem klassischen sozialethischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln. Katholische Soziallehre hat nach diesem Ansatz immerzu zwischen dem Sehen der je aktuellen Zeichen der Zeit, dem Urteilen im Licht des Evangeliums und dem Handeln in komplexen gesellschaftlichen Problemfeldern zu vermitteln. Dabei möchte die katholische Soziallehre die soziale und politische Dimension des christlichen Glaubens im Sinne gesellschaftlich-politischer Diakonie für alle Menschen guten Willens fruchtbar machen.

Die katholische Soziallehre bleibt dabei gemäß dem Drei-Träger-Modell (Sozialverkündigung Sozialethik Sozialengagement) auch auf den Erfahrungsschatz und die Sachkompetenz sozial und politisch aktiver Christinnen und Christen an der kirchlichen Basis verwiesen. Nach christlicher Überzeugung sind es nämlich vor allem die gläubigen Laien, Frauen und Männer, die als Weltchristen die Aufgabe haben, die zeitliche Ordnung gemäß dem Evangelium zu beseelen. Dabei haben sie die legitime Autonomie und Säkularität der weltlichen Sachbereiche und gesellschaftlichen (Teil-)Systeme zu achten (vgl. Gaudium et spes, Nr. 36) und gemeinsam mit ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in eigener Verantwortung das politische Leben zu gestalten.

Die Soziallehre als ein offenes, dynamisches Satzgefüge bringt es mit sich, dass dabei Christinnen und Christen bezogen auf konkrete politische Fragen selbstverständlich ganz unterschiedlicher Meinung sein können. Die Vorschläge zur Lösung von sozialen und politischen Problemen sind daher legitimer Weise so verschieden, wie die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen politischen Parteien und Verbänden, sofern deren Programmatik und Gebaren nicht von Grund auf diametral zu den Grundsätzen der Soziallehre sowie zum christlichen Menschenbild stehen.

Die katholische Soziallehre ist somit immer dynamisch, sie ist lebendig – man darf von ihr keine festgezurrten Antworten, gar eine überzeitlich-starre Sozialdogmatik erwarten, auch wenn es immer wieder Versuche gab, eine solche auf ihrem Fundament zu zimmern. Die Soziallehre als Gefüge entwicklungs- und auslegungsoffener Sätze ist letztlich wirklichkeitstauglicher als alle politischen Ideologien, die als sogenannte „große Erzählungen“ nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts ohnehin zu Recht unter dem Generalverdacht der Inhumanität stehen. Dank des anti-ideologischen Charakters der Soziallehre und ihrer Orientierung an aktuellen Zeitfragen kann sie dabei auch Nichtglaubenden Impulse für die gerechte Gestaltung der Gesellschaft anbieten. Es gilt nämlich Genese und Geltung katholischer Soziallehre und Sozialethik zu unterscheiden: Wenn eine sozialethische Positionierung auf Vernunftargumenten basiert und mit rationalem Wirklichkeitsbezug plausibilisiert wird, kann sie ihren Anspruch auf Geltung auch denjenigen verständlich machen, die ihre religiöse, biblische und theologische Genese nicht teilen. Daher wendet sich die kirchliche Sozialverkündigung seit der Enzyklika Pacem in terris von Johannes XXIII. auch ausdrücklich „an alle Menschen guten Willens“ und seit Papst Franziskus mit seiner Enzyklika Laudato si‘ noch weiter gefasst „an jeden Menschen […], der auf diesem Planeten wohnt“ (Nr. 3). Es gilt der Grundsatz, dass gerade im Bereich des Sozialen das entscheidend Christliche nicht immer zwangsläufig das unterscheidend Christliche sein muss.

Die Kirche hat zudem gelernt, dass sie in politischen Auseinandersetzungen dann Gehör finden wird, wenn sie die grundlegenden Diskursregeln der pluralistischen Moderne bejaht. Dazu gehört auf der politisch-praktischen Ebene, dass sie nicht allein hohe Gesinnungsethik vertritt, sondern ebenso die Notwendigkeit gesellschaftlicher Kompromisse berücksichtigt, die die Politik als Kunst des jeweils Möglichen zu sondieren hat. Eine Ethik des Kompromisses zu pflegen, gehört zu den wesentlichen moralischen Anforderungen an Politikerinnen und Politiker.

Dass keiner davon heutzutage mehr moralisch handele, wie in den inflationären Politikerschelten der Kommentarspalten digitaler und sozialer Medien vielfach behauptet, ist jedoch ein wohlfeiles Pauschalurteil, das dem Engagement vieler von ihnen nicht gerecht wird. Natürlich gibt die Politik tatsächlich nicht immer ein gutes Bild ab. Nach Papst Franziskus ist politisches Engagement dennoch ethisch zu würdigen: „Die so in Misskredit gebrachte Politik ist eine sehr hohe Berufung, ist eine der wertvollsten Formen der Nächstenliebe, weil sie das Gemeinwohl anstrebt“ (Evangelii gaudium, Nr. 205).

In seiner jüngsten Sozialenzyklika führt der Pontifex dies weiter aus: „Während jemand einem älteren Menschen hilft, einen Fluss zu überqueren – und das ist wahre Liebe –, so erbaut der Politiker ihm eine Brücke, und auch dies ist Liebe. Während jemand einem anderen hilft, indem er ihm zu essen gibt, so schafft der Politiker für ihn einen Arbeitsplatz und übt eine sehr hochstehende Form der Liebe, die sein politisches Handeln veredelt“ (Fratelli tutti, Nr. 186). Ebenso gilt es nach katholischer Soziallehre die Rolle der politischen Parteien in der Demokratie zu würdigen: Die Parteien, die in Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung agieren, tragen die Verantwortung dafür, die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen System zu ermöglichen und die Belange aus der Zivilgesellschaft in gemeinwohldienlicher Ausrichtung zu bündeln und in das Format eines politischen Programms zu gießen.

Aus einer politisch-ethischen Sicht sind nicht nur Politik und Parteien, sondern ist auch der Journalismus in den Blick zu nehmen. Dieser ist kein Teil des politischen Systems. Dennoch spricht man nicht selten von den Medien als „Vierte Gewalt“: als einer politischen Kraft, die die demokratische Balance der drei Gewalten Parlament, Regierung und Rechtsprechung wahren hilft, die beobachten und bewerten soll. Gleichzeitig müssen politische Journalisten immer auch die prekäre Balance halten zwischen übergebührlicher Nähe und überzogener Distanz zur Politik, zwischen Fundamentalopposition und Hofberichterstattung. Trotz der auch berechtigten medialen Eigenlogik mit ihrer Orientierung an Aufmerksamkeit und Absatzzielen geht es hierbei letztlich ebenso um eine Demokratie- und Gemeinwohlverantwortung der Medienschaffenden durch eine faire, differenzierte und meinungsplurale Politikberichterstattung. Gleichzeitig sollten Journalistinnen und Journalisten nicht vergessen, dass sie bei ihrer Berichterstattung nicht selbst Politik machen sollen.

Doch auch für die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gilt es, mit Gemeinsinn das Gemeinwohl im Konfliktfall möglichst vor den eigenen Interessen zu sehen, Kompromisse zu akzeptieren und den Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden zu wahren, bei gleichzeitigem Mut zur Kontroverse in den politischen Sachfragen. Als Wählerinnen und Wähler sind sie mit einem „ideellen Amt“ ausgestattet, das zum Wahlgang als Zelebration eines Hochamts der Demokratie moralisch verpflichtet. Insofern war es erfreulich zu sehen, dass die Beteiligung an der diesjährigen Bundestagswahl erneut angestiegen ist.

Die Wahlprogramme sind nun geschrieben und verglichen; die Wahlen sind vorüber, die Stimmen ausgezählt und die Sondierungsgespräche zur Bildung der nächsten Bundesregierung laufen. Aus der Wahlprogramm-Analyse der KSZ lassen sich indessen auch für die Zeit nach der Wahl sechs exemplarische inhaltlichen Grundpositionen herausdestillieren, die  als sozialethische Grundkoordinaten für die nun anstehende Legislaturperiode vorgeschlagen werden können:

  1. Die Orientierung am Wert der auf dem Grundgesetz basierenden menschenrechtlich-rechtsstaatlichen Demokratie als politische Lebensform der Freiheit sowie des gesellschaftlichen Pluralismus als Ausdruck dieser Freiheit.
  2. Der religionspolitische Grundsatz, dass im säkularen Staat der Beitrag von Religionsgemeinschaften an öffentlichen Diskursen sowie an der politischen Mitgestaltung der Gesellschaft auf Basis der Grundrechte erwünscht und förderlich ist.
  3. Das Bekenntnis zum ordnungsethischen Modell der Sozialen Marktwirtschaft und der Notwendigkeit ihrer ökologischen, klimaschonenden Weiterentwicklung im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft.
  4. Das Bekenntnis zur europäischen Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft, die eine Verantwortung für weltweite Gerechtigkeit und das globale Gemeinwohl einschließt.
  5. Die gesellschaftliche Bedeutung der Familie sowie der möglichst umfassenden Teilhabe an guter Bildung und guter Erwerbsarbeit.
  6. Ein Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, das als sozialethisches Leitbild die möglichst umfassende soziale Inklusion und Partizipation aller Menschen einer Gesellschaft anzielt. Damit verbinden sich insbesondere die Option für die „Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes, Nr. 1) sowie die Option für einen umfassenden Schutz des menschlichen Lebens an seinem Anfang und Ende.

Der Schatz des christlichen Glaubens birgt angefangen von dem schöpfungsbezogenen Hüterauftrag aus der Genesis über die Frage Gottes an den Menschen: „Wo ist dein Bruder Abel?“ bis hin zum Gebot der Nächstenliebe nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters immer auch eine soziale Dimension. Diese leitet Christinnen und Christen dazu an, zusammen mit allen Menschen guten Willens für eine gerechte Gesellschaft und eine intakte Umwelt Sorge zu tragen. Gerade die einzelnen Christinnen und Christen, die kraft Taufe und Firmung in solidarischer Zeitgenossenschaft Mitverantwortung in der säkularen Gesellschaft tragen, sei es in der Politik, in der Wirtschaft, in Verbänden oder wo auch immer, können dazu beitragen, dass die katholische Soziallehre auch in den 2020er Jahren aktuell bleibt und wichtige Impulse für die Gesellschaftsgestaltung vermitteln kann. Zweifelsohne war sie besonders in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland wirkmächtig, nicht wenige katholisch-soziale Ideen wurden damals umgesetzt.  Das Grundgesetz ist von christlicher Anthropologie imprägniert; unser Sozialstaat ist in so mancher Hinsicht geronnene Soziallehre, und das Modell der Sozialen Marktwirtschaft kann nicht ganz zu Unrecht als angewandte katholische Soziallehre bezeichnet werden.

Doch sich auf früheren Leistungen auszuruhen, ist die denkbar schlechteste Haltung. Alle drei Träger der katholischen Soziallehre sollten diese mit Blick auf die großen globalen Zukunftsthemen reaktivieren, reformulieren, aktualisieren, verbreiten, vertiefen, anwendungsfähig machen. Mit ihren Sozialprinzipien Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit bietet die Soziallehre ein starkes Säulenfundament mit sozialethischer Orientierungskraft für die Zeichen jeder neuen Zeit. Würde dies nicht mehr vermittelt, liefe das sozialkatholische Denken Gefahr, zu einer bloßen Episode deutscher Sozialgeschichte zu werden. Die Soziallehre müsste dann zu einem für die Zeitgenossen der 2020er Jahre nicht mehr zu lüftenden Kirchengeheimnis verkümmern. Daher sollte sie ganz im Sinne Öffentlicher Theologie und einer öffentlich engagierten Kirche unbedingt wieder einen höheren Stellenwert in Verkündigung und im Gesellschaftsdienst der Kirche erhalten.

Der Verfasser

Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.