Peter Schallenberg | November 2023
Klimakrise im Kapitalismus
Ethische Anmerkungen zum Apostolischen Schreiben „Laudate Deum“
Auf den Tag genau drei Jahre nach der Enzyklika „Fratelli tutti“(FT) vom 4. Oktober 2020 veröffentlichte Papst Franziskus wiederum am Fest des hl. Franz von Assisi sein neuestes sozialethisches Schreiben „Laudate Deum“, mit dem besonderen Akzent auf der Klimakrise, verstanden als Ausdruck einer dahinter stehenden größeren und globalen Umweltkrise.[1]
„Lobt Gott für all seine Geschöpfe“, so lautet der Anfang des Schreibens als Zitat des hl. Franz von Assisi. Das ist durchaus kein Zufall, gilt doch – erstens – der hl. Franziskus als Patron der Schöpfung und der Natur, insbesondere durch seinen großartigen Sonnengesang mit dem Lob der ganzen Schöpfung und am Ende mit dem Lob des Menschen als Krone von Gottes Schöpfung, und wählte doch – zweitens – der Papst seinen Papstnamen bewusst im Blick auf den Heiligen aus Assisi und dessen besondere Liebe zu den Armen und Ärmsten der Welt. Für Papst Franziskus ist seit langem klar: Die biblische und damit christliche Option für die Armen gewinnt durch die Klimakrise in einem global oft ohne Schranken agierenden Kapitalismus eine ganz neue Zuspitzung und Schärfe, denn „die Wirklichkeit ist, dass ein kleiner Prozentsatz der Reichsten auf der Erde die Umwelt mehr verschmutzt als die ärmsten 50 % der gesamten Weltbevölkerung und dass die Pro-Kopf-Emissionen der reichsten Länder um ein Vielfaches höher sind als die der ärmsten.“[2] Ein Blick auf demnächst durch Überflutung der Weltmeere von der Landkarte verschwindende Staaten im Pazifik (deren Bevölkerung dann eventuell von Australien aufgenommen wird) zeigt die menschenverachtende Fratze eines aus dem Ruder laufenden Klimawandels, der vor allem zu Lasten der Ärmsten geht und der Bevölkerung im globalen Süden. Wenn sich das Klima wandelt, dann auch die Lebensbedingungen vieler Menschen, die sich diesen katastrophalen Klimabedingungen nicht durch Migration oder teure Technik entziehen können.
Es geht um den Menschen als Ebenbild Gottes
Für Papst Franziskus ist daher der Klimawandel und die Klimakrise mit der daraus erwachsenden ethischen Herausforderung durchaus nicht einfach ein Zug, auf den die katholische Kirche erleichtert aufspringen und der drohenden säkularen Marginalisierung in letzter Minute in der Gesellschaft von Klimaaktivisten frohgemut entkommen könnte! Nein, vielmehr geht es immer und stets in den verschiedenen Feldern der katholischen Soziallehre um den Menschen als Ebenbild Gottes in der von Gott dem Menschen zur Bewahrung anvertrauten Schöpfung. Der Papst zitiert aus dem viel beachteten Schreiben der Bischöfe der USA von 2019: „ Die Auswirkungen des Klimawandels gehen zu Lasten der am meisten gefährdeten Menschen, sei es im eigenen Land oder auf der ganzen Welt.“[3] Ähnlich äußerte sich auch die Sonderversammlung der Bischofssynode für die Pan-Amazonas-Region im Schlussdokument vom Oktober 2019.[4] Und schließlich zitiert der Papst explizit aus der jüngsten Erklärung der afrikanischen Bischöfe, der Klimawandel sei „ein schockierendes Beispiel für eine strukturelle Sünde“.[5] Die Auswahl der Zitate ist natürlich nicht zufällig, sondern soll zeigen: Die Wirtschaftsform eines ungezügelten Kapitalismus bewahrt weder im entwickelten Westen noch im globalen Süden die Menschen vor der schrittweisen Zerstörung von Umwelt und Klima als menschenwürdiger Lebensraum. Natur als Schöpfung heißt theologisch: Die Welt soll als von Gott anvertrauter Lebensraum des Menschen bewahrt und geschützt, nicht ausgebeutet und ausgeraubt werden zu Lasten der jetzt Ärmsten und der zukünftig Lebenden. Das meint Nachhaltigkeit und schonender Umgang mit den knappen Ressourcen der Umwelt und der Natur.[6]
Ein mustergültiges Dokument für die katholische Synthese von Glaube und Vernunft
Papst Franziskus betritt die klimaethische Bühne nicht überraschend und auch überhaupt nicht unvorbereitet. Er schreibt mit „Laudate Deum“ in deutlich franziskanischer Schöpfungstheologie seine beiden Sozialenzykliken „Laudato si“ von 2015 und „Fratelli tutti“ von 2020, beide ebenfalls mit deutlichem Bezug zur Gestalt des hl. Franz von Assisi, fort. Ausdrücklich erwähnt er die Enzyklika „Laudato si“ zu Beginn seines Schreibens,[7] und deren großes Thema der Schöpfung als gemeinsames Haus des Wohnens für jeden Menschen: menschenwürdiges Wohnen ist ein eminent wichtiges Thema der Sozialethik im lokalen – man denke an den sozialen Wohnungsbau und an gerechte Mietpreise – wie im globalen Kontext.[8] Angesprochen ist damit das Menschenrecht auf eine intakte und gesunde Umwelt. Dabei wird die Grundüberzeugung von Papst Franziskus deutlich im Blick auf Umweltschutz und Klimawandel: „Niemand rettet sich allein!“[9] Nach der Enzyklika „Laudato si“ ist auch dieses Schreiben von einer umfangreichen, mitunter durchaus detailverliebten Darlegung naturwissenschaftlicher und klimawissenschaftlicher Erkenntnisse geprägt. Zusammen mit dem Kapitel zur geistlichen Betrachtung der Klimakrise im Licht eines franziskanischen Glaubens ist das Schreiben ein mustergültiges Dokument für die klassische katholische Synthese von Glaube und Vernunft, und dies angesichts eines globalen Problems, das die ganze Menschheitsfamilie angeht.
Zugleich ist „Laudate Deum“ von einer anderen, deutlich beunruhigteren Tonlage geprägt als die beiden Sozialenzykliken vorher. Jetzt könnte man geradezu sagen: no hope from the Pope, stattdessen eine geradezu dramatische Dringlichkeit des moralischen Appells: „Aus diesem Grund können wir den enormen Schaden, den wir verursacht haben, nicht mehr aufhalten. Wir kommen bloß noch rechtzeitig, um noch dramatischere Schäden zu vermeiden.“[10] Diese Dringlichkeit wird auch daran deutlich, dass „Laudate Deum“ konsequent von Klimakrise statt bloß und beschönigend vom Klimawandel spricht.
Der Papst unterstreicht, nicht zuletzt auch mit scharfem und offensivem Blick auf genuin katholische Leugner einer Klimakrise: Diese jetzt zu erlebende Klimakrise ist das größte kollektive Problem der Menschheit, das es je gab. Irreversible Kipp-Prozesse werden die Folge sein, wenn die Weltgemeinschaft nicht radikal umsteuert und den CO2-Ausstoß gemäß dem Abkommen der Pariser Klimakonferenz von 2015 deutlich unter zwei Grad hält. Auf der letzten Klimakonferenz in Sharm-El-Sheikh sprach UNO-Generalsekretär Antonio Guterres davon, dass die Menschheit auf dem Highway zur Klimahölle mit dem Fuß noch auf dem Gaspedal sei. Auch Papst Franziskus widmet sich in „Laudate Deum“ den Weltklimakonferenzen und erkennt deren Schlüsselrolle an und zeichnet deren bisherige Geschichte mit ihren Erfolgen und Rückschlägen kritisch nach.[11] Dies verbindet Papst Franziskus mit einem deutlichen Appell mit Blick auf die anstehende COP 28 in Dubai, an der er Anfang Dezember sogar selbst teilnehmen will und sprechen wird. Ein globaler Frieden, so die feste Überzeugung des Papstes, hängt von globaler Gerechtigkeit gerade in Bezug auf menschengerechte Umweltbedingungen ab.
Gegen ein mechanistisches und physikalisches Weltbild
Der Papst verschärft zugleich seine Kritik am „ökonomisch-technokratischen Paradigma“ als einer Hauptursache der Klimakrise, auch dies im zitierenden Anschluss an seine Enzyklika „Laudato si“ von 2015 mit der Beschreibung eines letztlich menschenverachtenden Denkens, „als gingen die Wirklichkeit, das Gute und die Wahrheit spontan aus der technologischen und wirtschaftlichen Macht selbst hervor.“[12] Dahinter steht die „Idee eines unendlichen und grenzenlosen Wachstums, das die Ökonomen, Finanzexperten und Technologen so sehr begeisterte.“[13] Der Papst wendet sich hier ausdrücklich gegen ein mechanistisches und physikalisches Weltbild bei zunehmender Vernachlässigung einer notwendig dahinter stehenden Meta-Physik, also eines Leitbildes vom beglückten und guten menschlichen Leben über bloße quantitative Vermehrung des materiellen Wohlergehens hinaus.
Schon vor Jahren skizzierte Albert O. Hirschman in seinem genialen Buch „Leidenschaften und Interessen“ diese seit der Renaissance im Westen ablaufende Entwicklung eines mechanistischen und technokratischen Paradigmas: „Die Fortschritte der Mathematik und Astronomie verhießen die Hoffnung, daß Bewegungsgesetze für das menschliche Handeln ebenso entdeckt werden könnten wie für fallende Körper und Planeten.“[14] Statt moralisierender Philosophie und religiösen Geboten sollen nun die individuellen (und destruktiven) Leidenschaften der Menschen in Staat und vor allem in der Wirtschaft nicht mehr unterdrückt, sondern konstruktiv eingespannt werden – die Grundidee des frühen Kapitalismus seit den franziskanischen Predigern in der Toscana der frühen Renaissance. Sehr schnell schon, zuerst in England, verbindet sich dieser mechanistische Kapitalismus mit einem ähnlich mechanistischen Liberalismus: „So wurde zunächst in der Sphäre der Politik die Möglichkeit postuliert, daß aus der Mechanik der Interessenverfolgung ein allseitiger Vorteil entstehen würde, lange bevor derselbe Gedanke zum Lehrsatz der Ökonomie erhoben wurde.“[15] Denn: „Die Leidenschaften waren wild und gefährlich, während die Sorge für die eigenen materiellen Interessen unschuldig, oder, wie man heute sagen würde, unschädlich war.“[16] Schließlich „verzichtete Adam Smith auf die Unterscheidung zwischen Interessen und Leidenschaften und trat für ungehindertes Streben nach privatem Gewinn ein.“[17] In moralphilosophischer Sicht tut Adam Smith gewissermaßen den letzten Schritt: „das Streben nach ökonomischen Vorteilen ist nun nicht mehr autonom, sondern wird zu einem bloßen Vehikel für das Bedürfnis nach Anerkennung“, denn nach dieser Anthropologie sind „all unsere Anstrengungen nur auf zwei Ziele gerichtet, nämlich die Annehmlichkeiten des Lebens für uns selbst und die Anerkennung von Seiten der anderen.“[18]
Vergessen wurde dabei nur die sich vererbende und fortsetzende Ungleichheit einer menschlichen Gesellschaft – die Perpetuierung der Armut – und die scheinbar folgenlose Plünderung der natürlichen Ressourcen der Umwelt als Konsequenz eines solchen physiokratischen Kapitalismus, wie dies neuerdings der japanische Philosoph Kohei Saito im Rückgriff auf einen eher unbekannten Karl Marx und dessen Ideen zur globalen Gerechtigkeit beschreibt, und dann zum Modell einer gerechten Gesellschaft im Zeitalter der Klimakrise kommen will: „Da der Kapitalismus bereits den Menschen als Werkzeug zur Kapitalakkumulation behandelt, ist auch die Umwelt nichts weiter als ein Zielobjekt für Raubbau.“[19] Das entscheidende Stichwort ist das „Anthropozän“ als Kennzeichnung eines Zeitalters, das globale und nachhaltige Gerechtigkeit zunehmend vergießt zugunsten individualisierter und jetzt-zeitiger Interessensverfolgung: „Das Anthropozän ist zwar einerseits das Zeitalter, in dem die Spuren der wirtschaftlichen Aktivität des Menschen auf der ganzen Erde zu sehen sind, andererseits kann man aber auch sagen, dass es eine Epoche der durch Externalisierung und Plünderung ausgezehrten Peripherien ist.“[20]
„Laudate Deum“ ist weit entfernt davon, in einen vormodernden religiösen Moralismus zurückzufallen, sondern will lediglich auf die universale und globale Ausweitung der Idee eines für jeden Menschen – auch freilich der zukünftigen Generationen – guten und würdigen Lebens hinwirken, also auf wirklich globale und nachhaltige Gerechtigkeit. Hier muss dann die Weiterentwicklung eines zugleich liberalen (antitotalitären) und nachhaltigen (sozialen) Kapitalismus ansetzen, und das entspricht seinem ursprünglichen ethischen Kern, „denn ursprünglich wurde vom Kapitalismus ja gerade erwartet und erhofft, dass er bestimmte menschliche Neigungen und Triebe unterdrücken und eine weniger vielgestaltige, weniger unberechenbare und eine eher eindimensionale menschliche Persönlichkeit prägen würde.“[21]
Die Grenzen menschlicher Macht neu bedenken
Mit sehr scharfen Worten bezeichnet Papst Franziskus dies als eine „Ideologie, der eine Besessenheit zugrunde liegt: Die menschliche Macht über alles Vorstellbare hinaus zu steigern, für die die nicht-menschliche Wirklichkeit nur eine Ressource zu ihren Diensten ist.“[22] Dabei argumentiert er dezidiert macht- und systemkritisch, wenn er mahnt, dass die nicht zuletzt durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz weiter wachsende Macht des Menschen – näherhin von profitorientierten und frei agierenden Unternehmen im Weltmarkt – in Bezug auf die Natur und ihre ausbeutende Verobjektivierung und Verzweckung einer wirksamen Begrenzung bedürfe: „Wir müssen alle gemeinsam die Frage nach der menschlichen Macht, nach ihrem Sinn und nach ihren Grenzen neu bedenken.“[23] Dies ist natürlich eine anthropologische Aussage: Die christliche gewohnte Vorrangstellung des Menschen als Gottes Ebenbild und als Krone der Schöpfung „inmitten des wunderbaren Konzerts aller Lebewesen“ kann angesichts der Klimakrise in einem zu Ende laufenden Anthropozän nur mehr einen „situierten Anthropozentrismus“ zulassen: „Die jüdisch-christliche Weltanschauung besteht auf dem besonderen und zentralen Wert des Menschen inmitten des wunderbaren Konzerts aller Lebewesen, aber heute sind wir gezwungen anzuerkennen, dass man nur von einem situierten Anthropozentrismus sprechen kann. Das heißt, wir müssen anerkennen, dass das menschliche Leben ohne andere Lebewesen nicht verstanden und nicht aufrechterhalten werden kann.“[24] Das meint: Sowohl Tierschutz wie auch Klimaschutz sind die Situationen, in denen eine theologische Anthropologie neu bestimmt werden muss. Damit bettet Papst Franziskus die christliche und biblische Anthropologie noch stärker als bisher lehramtlich gewohnt in das gesamte Beziehungsgefüge der Natur als Schöpfung ein.
Genau deswegen warnt der Papst auch davor, Klimaschutz als grün und romantisch zu verspotten oder gar den Klimawandel und seine Folgen zu relativieren und zu verharmlosen, Irrlehren, wie er sagt, die er auch innerhalb der Kirche wahrnimmt.[25]
Als einen Beitrag zur Lösung des Klimaproblems stellt der Papst drei zentrale Leitkriterien für „verbindliche Formen der Energiewende“ auf, die für die Politik, die Kirche und die menschliche Weltgemeinschaft relevant sind: Es sollen Formen sein, die effizient sind, verpflichtend sind und leicht überwacht werden können. „Damit soll erreicht werden, dass ein neuer Prozess eingeleitet wird, der drastisch und intensiv ist und auf das Engagement aller zählen kann.“[26]
Katholischer Kapitalismus, oder: Adverbien statt Adjektive
Im Lukas-Evangelium, das mit seinem ausdrücklichen Blick auf die Armen in besonderer Weise den hl. Bonaventura (1221-1274) und die franziskanische Theologie und Ethik in der Entwicklung des frühen Kapitalismus geprägt hat, heißt es: „Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr meßt, wird auch euch zugemessen werden.“[27] Der Kontext der Schriftstelle bestimmt auch den Kontext des in der frühen Renaissance entstehenden Kapitalismus mit der Idee der Einhegung und Nutzbarmachung des individuellen Strebens nach Wohlstand und Profit: Es geht, spätestens seit der Erfindung der ersten Banken – als Leihhäuser, um das noch geltende Zinsverbot zu umgehen – und des frühen Kapitalismus in den Predigten der Franziskaner um Bernhardin von Siena (1380-1444), um einen „effektiven Altruismus“, also die Bemühung, die knappen Ressourcen von Zeit und Geld optimal einzusetzen – zu investieren –, um das Leben möglichst vieler – möglichst aller – Menschen umfassend zu verbessern. Vom Reichtum also abzugeben, um mehr als äußeren Reichtum zu erhalten. Der (biopolitisch sehr umstrittene) australische Ethiker Peter Singer hat dazu schon 2015 beachtenswerte grundsätzliche Überlegungen vorgelegt.[28]
Dies wird entfaltet einerseits in entsprechenden Überlegungen von Papst Benedikt XVI. aus seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ (CiV) von 2009 zur Finanzkrise und entspricht andererseits sehr deutlich einer ganzheitlichen Sicht des Menschen und der Sozialethik im Lehramt von Papst Franziskus. Als Kriterien für die Entwicklung eines ethischen Handelns im gewinnorientierten Kapitalismus gelten die fünf Sozialprinzipien: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, globales Gemeinwohl und Nachhaltigkeit. Papst Franziskus unterstreicht in seiner zweiten Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ von 2020 deutlich: „Die Aktivität der Unternehmer entspricht einer wahren und noblen Berufung Gottes, gerichtet auf die Vermehrung des Wohlstands und die Verbesserung der Welt für alle Menschen.“[29] Das hört sich harmlos an, und ist doch einst, bei der Entstehung des frühen Kapitalismus in der franziskanischen Reformbewegung, ausgehend von der Toscana mit Bernhardin von Siena, und ausgreifend auf so bedeutende franziskanische Reformprediger wie Berthold von Regensburg (1210-1272) und David von Augsburg (1200-1272) – mit der erstmaligen expliziten Hochschätzung von unternehmerischem Fleiß und Profitstreben – revolutionär gewesen. Berthold predigt beispielsweise in der Auslegung zum Gleichnis von den Talenten: „Wir alle müssen uns irgendeiner Aufgabe annehmen, mit der wir unsere Seligkeit erlangen.“[30]
Von dort bis zur Hochschätzung des Berufs und des beruflichen Ehrgeizes bei Martin Luther ist der Weg nicht mehr weit;[31] Beruf kommt in der deutschen Sprache seitdem von Berufung! „Gott liebet Adverbien und schert sich nicht darum, wie gut etwas ist, sondern darum, wie wohl es getan ist“ nennt das zugespitzt ein anglikanischer Bischof im 17. Jahrhundert.[32] Nicht, was jemand ist, sondern wie er es tut, ist entscheidend für die moralische Beurteilung. Deutlicher gesagt: Nicht nur das Streben nach persönlicher Armut, sondern – paradoxerweise – auch das Streben nach Gewinn kann ein Weg zum Himmel, zur Liebe Gottes sein und entspricht Gottes Plan, allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, und zwar gerade durch dieses Gewinnstreben von talentierten Individuen. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft basiert letztlich auf diesem alten franziskanischen Gedanken: Eine Marktwirtschaft mit geregeltem Wettbewerb und konkurrierendem Gewinnstreben bei gleichzeitigem Kartellverbot und gerechter Besteuerung ist das effektivste Mittel zu einem effektiven Altruismus in Form versicherter Sozialität und Solidarität, eben um einen sozialen und menschengerechten Altruismus zu bewirken. In dieser Sicht heiligt der gute Zweck wirklich einmal ein ursprünglich egoistisches Mittel, oder: Es gibt in der Tat eine katholische unsichtbare Hand des regelgeleiteten Marktes!
Die katholische „unsichtbare Hand“ des Marktes
Amintore Fanfani (1908-1999), der bedeutende katholische italienische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, hat – kaum dreißig Jahre nach Max Webers Untersuchungen zur Geburt des Kapitalismus aus dem Geist der protestantischen Arbeitsethik – ein eigenes großes Werk vorgelegt, was leider im deutschsprachigen Raum ganz zu Unrecht kaum bekannt ist: „Cattolicesimo e Protestantesimo nella Formazione Storica del Capitalismo“ (1934), schon ein Jahr später mit großem nachhaltigen Erfolg in englische Sprache übersetzt,[33] aufgegriffen besonders durch die umfangreichen Studien von Harold J. Berman[34] und Philippe Nemo[35]. Darin führt Fanfani präzis den Nachweis, dass – wiederum paradoxerweise – der frühe Kapitalismus nicht nur seinen Namen, sondern auch seine Idee der franziskanischen Armutsbewegung verdankt. Der Gedanke geht kurzgefasst so: Damit umfassend und effektiv den Ärmsten der Armen geholfen werden kann, reicht es nicht, an das Mitleid der Reichen zu appellieren – wie das die Kirchenväter, besonders Ambrosius von Mailand (339-397)[36], Basilius der Große (330-373) und Johannes Chrysostomus (344-407), in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten getan haben – und auf deren Almosen zu hoffen, sondern es braucht angesichts des menschlichen natürlichen Strebens nach Gewinn und Vermehrung des Wohlstands Systeme und Institutionen der Umverteilung von Reichtum und Wohlstand. Das wesentlichste System dazu ist – so die franziskanische Entdeckung – der Markt: Das Gewinnstreben der Menschen wird kanalisiert im Rahmen eines regelgeleiteten wettbewerbsorientierten Handels. Märkte dienen so der effektiven Verteilung von Arbeit und Wohlstand; Finanzmärkte sollen analog der Förderung von Wohlstand und der Verhinderung von Armut dienen.
Wiederum ist an das in der Tugendethik oftmals berüchtigte Axiom „Der Zweck heiligt die Mittel“ zu denken: Im Blick steht zuerst das Ziel und der Zweck eines kapitalintensiven Investments, nicht aber zunächst der Blick auf die immer auch egoistischen Motive des Gewinnstrebens. Das Streben nach Profit und Gewinn ist nicht per se ein „intrinsece malum“, also ein immer und unter allen Umständen verbotenes Übel (wie Mord, Lüge, Vergewaltigung, Raub, Sklaverei), ungeachtet möglicherweise mildernder Umstände oder Zwecke, sondern wird erst als ausgesprochene Gier zum Übel, kann jedoch grundsätzlich als Motor zur Erreichung eines guten Zieles dienen. Motivation und Intention verschieben sich in Richtung Altruismus, ohne das berechtigte Eigeninteresse aus dem Auge zu verlieren: eben eine Art katholische Version der berühmten unsichtbaren Hand des Marktes bei Adam Smith. Die Frage lautet dann berechtigterweise: Was bringt das Investment den Betroffenen und deren Umwelt, der Gesellschaft, dem Gemeinwohl? Was bringt es an Förderung der je schwächeren Mitglieder der Gesellschaft? Gerade im Blick auf eine wachsende Zahl nicht explizit religiös motivierter Mitarbeiter kirchlicher Institutionen ist dieser Paradigmenwechsel wichtig, ganz im Sinn des Gleichnisses von den Talenten (Mt 25, 14-30) unmittelbar vor der großen Gerichtsrede und der Aufforderung „Was ihr dem Geringsten getan habt, habt ihr mir getan“ und einer dementsprechenden Unterscheidung von primären und sekundären Werten. Das ist sozialethisch sehr bedeutsam und zugleich ein deutlicher Unterschied zur eher individualethisch orientierten Moraltheologie. Ein gutes Werk wird nicht erst dadurch gut, dass es dem handelnden Menschen keinen Gewinn bringt; Verzicht ist nicht ein allein ausschlaggebendes Kriterium für Gutheit; Gewinne für die eigene wie für andere Personen sind gut vereinbar und tatsächlich zunächst kein Ausweis von boshaftem Egoismus.
„Ökonomik der Gratuität“ nach „Laudato si“ und „Fratelli tutti“
Insofern bedarf es, wie auch Papst Franziskus in seiner ersten Sozialenzyklika „Laudato si“[37] ausdrücklich mahnt, eines neuen ganzheitlichen ökologischen Modells, das unter Berücksichtigung aller Aspekte der Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialökologie statt profit maximization die benefit contribution zum Inhalt hat und damit stärker die Armen und am Rande der Gesellschaft lebenden Menschen einschließt und somit dem globalen Gemeinwohl gerechter wird.
Anders gesagt: Eine regenerative Zivilisation braucht eine regenerative Wirtschaft. Diejenigen Investmentkategorien, die substantiell oder mehrheitlich nach dem Gemeinwohl streben und damit vornehmlich den social impact verfolgen, werden dann als Impact Investments bezeichnet. Derartige Impact Investments zeichnen sich neben dem social impact auch dadurch aus, dass sie in der Regel einem trade-off von finanziellen Renditen einerseits und sozialem Benefit und sozio-ökonomischen Zielvorstellungen andererseits unterliegen und dass ihre positive Wirkung oft nur teilweise oder eher unzureichend mit den herkömmlichen finanziellen Kennzahlen erfasst werden kann. Hier gilt es eine „Kultur der Gratuität“, wie dies die Enzyklika „Caritas in veritate“ ausführlich im Anschluss an die frühe franziskanische Ökonomik in der Toscana entfaltet und wie es der italienische katholische Wirtschaftswissenschaftler Stefano Zamagni aufgreift,[38] in Erinnerung zu rufen. Nächstenliebe effektiviert sich in effizienter Weise außerhalb des paradiesischen Gartens Eden und vor Anbruch des Jüngsten Tages in Formen des legitimen Profitstrebens und damit eines effektiven Altruismus.
Die vom Vatikan initiierte „Laudato Si Action Platform“ benennt in diesem Zusammenhang zur Operationalisierung einer entsprechenden nachhaltigen und ganzheitlichen Wirtschaftsethik sieben „agents“, handelnde Subjekte also, (NGOs, religiöse Orden und Vereinigungen, Familien, Pfarreien und Diözesen, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Wirtschaftsagenten). Hinzu kommen sieben Ziele: ökologische Nachhaltigkeit und Klimaneutralität; globale Solidarität, vor allem zugunsten der besonders vulnerablen Gruppen der Menschheitsfamilie (z.B. indigene Völker oder Migranten); Aufbau einer ökologischen Wirtschaft; Praxis eines einfachen Lebensstils; Entfaltung einer ökologischen Spiritualität; Ermöglichung einer ökologischen Erziehung und Bildung; Schwerpunkt auf Partizipation und kleinen Gemeinschaften im Sinn echter Subsidiarität.
Die Investments in ein weltweites Gemeinwohl sind aus Sicht der modernen katholischen Soziallehre außerordentlich wichtig. Dazu müssen sie aus dem Schatten einer bloß altruistischen Mittelzuwendung in das Licht einer professionellen Investmentstrategie rücken. Theologisch gesprochen: Profit und Nächstenliebe verschränken sich. Erst so gelingt der Aufbau einer globalen menschenwürdigen Gesellschaft auf der Grundlage einer durchaus unterschiedlich gestalteten zivilen Wirtschaft in Gemeinschaft einerseits und einer politisch gestalteten Ökonomie – Haushaltung eines menschenwürdigen Wohnens im eigentlichen Wortsinn nämlich – divergierender Interessen andererseits.[39]
„Wege aus dem Kapitalismus“[40] könnten dann Wege der Rückbesinnung auf einen menschenwürdigen Kapitalismus genuin christlicher Prägung werden, dessen nachhaltige Verantwortung und zugleich dessen Grenzen im Blick auf das mitmenschliche Zusammenleben präzis benannt werden.
Mit Recht prangert Rainer Bucher, ganz im Sinne von „Laudate Deum“, eine kulturelle Hegemonie eines Hyper-Kapitalismus an und zitiert zustimmend die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild: „Wir übertragen die Regeln und Muster unserer Gefühlsarbeit aus dem Leben auf dem Markt auf unsere nicht-marktförmigen Lebensbereiche. Wir leben unser nicht-markt-förmiges Leben so, als ob wir einkaufen, Waren erwerben oder wegwerfen.“[41]
Wenn der Begriff Gott für einen nicht verwertbaren und erwerbbaren Bereich des menschlichen Lebens steht, der jenseits materieller Quantitäten erst unbezahlbare Qualität in den Blick kommen lässt, dann wäre dies eine beglückte säkulare Übersetzung der religiösen Rede von Gott, und dann wäre in der Tat Gott zu loben mit Papst Franziskus, und Anlass zu jubilieren mit Bruno Latour[42] – jenseits jedes zählbaren Profits.
Anmerkungen
[1] Vgl. Koo van der Waal, Was treibt die Umweltkrise an? Eine philosophische Erkundung, Freiburg/Br. 2023.
[2] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Laudate Deum“ (LD), 4. Oktober 2023, Nr. 9.
[3] LD Nr. 3 mit Zitat aus: USCCB, Global Climate Change Background, Washington 2019.
[4] Nr. 10: AAS 111(2019)1744.
[5] Symposium of Episcopal Conferences of Africa and Madagascar: African climate dialogues communiqué, Nairobi 17. Oktober 2022.
[6] Vgl. Markus Knapp, Gott – Natur – Mensch. Eine theologische Standortbestimmung angesichts der Klimakrise, Freiburg/Br. 2023.
[7] LD Nr. 2.
[8] Vgl. Jürgen Hasse, Was bedeutet es zu wohnen? Anstöße zu einer Ethik des Wohnens, Freiburg/Br. 2023.
[9] LD Nr. 19.
[10] LD Nr. 16.
[11] Vgl. ebd. Nr. 44ff.
[12] Enzyklika „Laudato si“ (LS), 24. Mai 2015, Nr. 105.
[13] Ebd. Nr. 106.
[14] Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1980, 21.
[15] Ebd. 59.
[16] Ebd. 67.
[17] Ebd. 79.
[18] Ebd. 118 mit Verweis auf Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments.
[19] Kohei Saito, Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, München 2023, 25; ähnlich auch Jonathan Aldred, Der korrumpierte Mensch. Die ethischen Folgen wirtschaftlichen Denkens, Stuttgart 2020, besonders 176 ff.: Die Klimaveränderung und ich.
[20] Ebd. 29.
[21] Ebd. 141.
[22] LD Nr. 22.
[23] Ebd. Nr. 28.
[24] Ebd. Nr. 67; vgl. dazu auch Gerhard Kruip, Die Welt um uns herum zerfällt. Das Apostolische Schreiben „Laudate Deum“, in: Herder Korrespondenz 11/2023, 21-23.
[25] Vgl. LD Nr. 14.
[26] Ebd. Nr. 59.
[27] Lk 6, 38.
[28] Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, Berlin 2015.
[29] Enzyklika „Fratelli tutti“ Nr. 123.
[30] Werner Röcke (Hg.), Berthold von Regensburg: Vier Predigten, Stuttgart 1983, 11.
[31] Vgl. Jürgen Schönwitz, Der Berufsgedanke bei Berthold von Regensburg und Martin Luther, in: Jahrbuch Sozialer Protestantismus, Bd. 12, Leipzig 2020, 325-360.
[32] Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt/Main 1996, 396.
[33] Amintore Fanfani, Catholicism, Protestantism, and Capitalism, IHS Press 2003.
[34] Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/Main 1991(Original englisch: Law and Revolution: The Formation of the Western Legal Tradition, Harvard 1985).
[35] Was ist der Westen? Die Genese der abendländischen Zivilisation, Tübingen 2005 (Original französisch: Qu`est-ce que l`Occident?, Paris 2004).
[36] Vgl. eindrücklich Ambrosius von Mailand, Der Mächtige und der Arme. Der Weinberg des Naboth, Freiburg/Br. 2019.
[37] LS Nr. 137.
[38] Vgl. Stefano Zamagni, Globalization: Guidance from Franciscan Economic Thought and „Caritas in veritate“, in: Faith and Economics 56(2020)81-109.
[39] Vgl. Luigino Bruni, La pubblica felicità. Economica civile e political economy a confronto, Milano 2018.
[40] Vgl. Smail Rapic (Hg.), Wege aus dem Kapitalismus? Baden-Baden 2023.
[41] Arlie Russell Hochschild, Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, Frankfurt/Main 2003, 9; zitiert bei Rainer Bucher, Christentum im Kapitalismus. Wider die gewinnorientierte Verwaltung der Welt, Würzburg 2019, 45; erhellend auch Nancy Fraser/Rahel Jaeggi, Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie, Berlin 2020.
[42] Vgl. erhellend Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2016.
Der Verfasser
Prof. Dr. Peter Schallenberg lehrt Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und ist Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.