Stefan Einsiedel | Januar 2022

Lernen von und mit den Ärmsten

Parallelen im Denken von Amartya Sen und Papst Franziskus

Nachhaltige Entwicklung – schafft das die Demokratie?

In der jüngsten Zeit ist – nicht zuletzt durch die zähen Debatten um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie und dem Klimawandel – eine scheinbar längst beantwortete Grundsatzfrage wieder neu ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt: Welches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist am besten geeignet, möglichst vielen (oder gar allen) Menschen eine lebenswerte Zukunft zu garantieren? Schließen sich dabei unter Umständen die Ziele „möglichst viele“ bzw. „alle Menschen“ gegenseitig aus? Und wer sollte darin auf welche Weise darüber entscheiden, welche Opfer für diese „lebenswerte Zukunft“ von wem verlangt werden können?

Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts konnten sich die Vertreter der unterschiedlichen Machtblöcke und Weltanschauungen zwar nicht auf allgemeingültige Antworten auf diese zentralen Ordnungsfragen verständigen, doch in einem Punkt herrschte Einigkeit: Wachsender Wohlstand und politische Stabilität wurden von allen Seiten als Erfolgsmaßstäbe und Rechtfertigung für das jeweilige Wirtschafts- und Verwaltungs- bzw. Entscheidungsfindungssystem herangezogen. Egal ob Ost oder West, Nord oder Süd – ein Land, das sich durch eine wachsende Wirtschaft und eine zufriedene Gesellschaft (oder zumindest das Ausbleiben von Revolutionen) auszeichnete, war offenbar auf dem richtigen Weg. Spätestens mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Planwirtschaften und dem Fall des Eisernen Vorhangs schien dann klar: Das Prinzip freiheitlicher Demokratien und offener Märkte hatte sich im Wettbewerb der Systeme eindrucksvoll durchgesetzt und musste angesichts glänzender Zukunftsaussichten zwar weiter verbessert, aber nicht mehr grundsätzlich hinterfragt werden.

In den vergangenen Jahren wurde dieser freiheitliche Zukunftsoptimismus zunehmend erschüttert: Die demokratischen Hoffnungen des Arabischen Frühlings wurden meist bitter enttäuscht, in China gingen rasches Wachstum und immer stärkere Überwachung der Bevölkerung Hand in Hand, Handelskonflikte nahmen auch zwischen westlichen Ländern zu, in altgedienten Demokratien kamen Populisten an die Macht, während die Corona-Krise enorme Chancenunterschiede zwischen Arm und Reich, aber nicht zwischen freiheitlichen und totalitären Systemen offenkundig machte. Doch nicht nur das Vertrauen in die Kraft der Demokratie ging in dieser Zeit zurück – angesichts der fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen stellten sich immer mehr Menschen die Frage, ob wirtschaftliches Wachstum weiterhin Teil der Lösung, oder nicht eher Teil des Problems sei.[1] Sind unsere auf demokratische Zustimmung ausgerichteten Entscheidungsprozesse überhaupt in der Lage, schmerzhafte, aber notwendige Einschnitte zu vermitteln – und kann das angesichts des voranschreitenden Klimawandels schnell genug passieren? Die (noch längst nicht beantwortete) Frage „Kann Demokratie Nachhaltigkeit?“[2] wird wohl wesentlich darüber entscheiden, wie wir, unsere Kinder und Enkel im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts leben werden.

In dieser Situation lohnt sich die Beschäftigung mit den Thesen und Argumentationsweisen zweier Zeitgenossen, die die öffentliche Debatte um Nachhaltigkeit, Teilhabe und menschengerechte Entwicklung mitprägen: Zwar liefern der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen (*1933 in Indien, Nobelpreis 1998) und der Theologe Jorge Bergoglio (*1936 in Argentinien, seit 2013 Papst Franziskus) keine einfachen Patentlösungen auf die beschriebenen Systemfragen, doch geben sie wertvolle Hinweise, wie diese Fragen in unserer Zeit am ehesten beantwortet werden können. Dabei setzen beide – aus unterschiedlichen Kontinenten, Wissenschaftsdisziplinen und Denktraditionen kommend – auf die „Perspektive der Armen“ und machen deutlich: Die besondere Berücksichtigung der Armen und Marginalisierten sollte nicht nur aus Gründen des Mitleids oder aus einem (durchaus wichtigen) Gerechtigkeitsideal heraus erfolgen – vielmehr eröffnet dieser ungewöhnliche Blickwinkel „von unten“ ganz wesentliche Einsichten, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft aussehen sollte.

Um das vielfältige Potential dieser Armutsperspektive, für die sich Sen und Papst Franziskus seit vielen Jahren so vehement einsetzen, besser zu verstehen, sollen im Folgenden zunächst die deutlichen Parallelen in der Arbeits- und Argumentationsweise der beiden näher beleuchtet werden, bevor dann einige praktischen Implikationen daraus geschildert werden.

Mitgefühl als Erkenntnisschlüssel

Es wäre ein Missverständnis, Sen und Papst Franziskus in erster Linie als Wachstumskritiker zu begreifen – vielmehr kreist ein großer Teil ihrer Veröffentlichungen um die Frage, wie ganzheitliches menschliches Wachstum gelingen kann. Die bisweilen scharfe Kapitalismuskritik, für die beide bekannt sind, entzündet sich vor allem am Problem einer rücksichtslosen Externalisierung, bei der das wirtschaftliche Wachstum einiger Marktteilnehmer auf Kosten der (viel breiter zu denkenden) menschlichen Entwicklung erfolgt. Ein entscheidender Faktor, um überhaupt zu bemerken, dass Wachstumschancen des Einzelnen, aber auch der menschlichen Gemeinschaft als Ganzes verpasst werden, aber auch um für Ungerechtigkeiten (im konkreten Einzelfall wie auch in den verschiedenen Ordnungssystemen) sensibel zu werden, ist für Sen und Papst Franziskus das menschliche Mitgefühl.

Schon als junger Wirtschaftswissenschaftler warnte Amartya Sen vor der Begrenztheit ökonomischer Modelle, die bei der Erklärung menschlicher Entscheidungen komplexere Gefühle, die über reine Nutzenabwägungen hinausgehen, außer Acht ließen. Später dann machten seine Überlegungen – etwa über Sympathie, moralische Verpflichtung oder das menschliche Zusammengehörigkeitsgefühl[3] – scheinbar irrationale Entscheidungen (wie altruistisches Verhalten gegenüber Fremden) auch seiner Zunft begreifbarer. Ebenso weiß Papst Franziskus – als Jesuit auch aus der Exerzitien-Tradition seines Ordens – wie wichtig ein bewusster Umgang mit Emotionen ist und dass weder derjenige, der eine Entscheidung trifft, noch derjenige, welcher sie beobachtet und deutet, dabei frei von Gefühlen ist. Gerade der Fähigkeit zum Mitgefühl kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu: Es dient in vielfacher Weise als Augenöffner (sowohl für die gesamte Bandbreite der menschlichen Gefühlswelt als auch als Seismograf für gesellschaftliche Veränderungen und Ungerechtigkeiten) und wirkt als Dialog-Ermöglicher. Es war die offene Begegnung mit den Armen, nicht das persönliche Erleiden von Armut, welches Sen und Franziskus einen fruchtbaren Dialog über viele gesellschaftliche Schranken hinweg ermöglicht hat. Eine derartige Haltung des mitfühlenden Dialogs könnte auch die heutige demokratische Debattenkultur bereichern, die oft zwischen zwei Extremen balanciert: Der Versuchung, persönliche Betroffenheit oder Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe zur Voraussetzung zu machen, um überhaupt „glaubhaft mitreden“ zu dürfen (Mitgefühl erleichterte es, mit oder für eine Gruppe zu sprechen, ohne Teil von ihr werden zu müssen) – und andererseits der Gefahr, dass sich ein politischer oder wissenschaftlicher „Profi“ zum selbsternannten Sprachrohr derer aufschwingt, die mit etwas Übung auch gut für sich selbst sprechen könnten (Mitgefühl als Augenöffner gegen den eigenen Egozentrismus).

Mitgefühl und Menschenwürde

Zudem wird die Fähigkeit zu Mitleid von Sen und Franziskus gerne benutzt, um den so wichtigen Begriff der menschlichen Würde, der in reinen Fachdiskussionen schwer zu begründen ist, tatsächlich begreifbar zu machen, ihn sozusagen mit allen Sinnen zu ergründen. Wohlwissend, dass beispielsweise die in kirchlichen Schreiben gern zitierte Herleitung der Würde des Menschen (und jedes Menschen) als „Abbild und Kind Gottes“ für nichtgläubige Menschen wenig Verbindlichkeit und Überzeugungskraft besitzt, dass aber auch juristische und philosophische Begründungen angreifbar sind, setzt Papst Franziskus gerne auf die emotionale Auffassungsgabe des Menschen. „Die Fähigkeit, zu erkennen, zu lieben und miteinander zu sprechen ist weiterhin der große Adel des Menschen“, schreibt Papst Franziskus in Laudato si‘ (LS 119), um kurz danach festzustellen, dass oftmals eine „Handlung der Liebe (…) unsere eigene Würde zum Ausdruck bringt“ (LS 211) – wie sich im weiteren Verlauf zeigt, eint das hier anklingende Thema der „Befähigung“ Franziskus und Sen in besonderer Weise. Beide wissen auch, dass uns unser Mitgefühl befähigt, Verletzungen der menschlichen Würde intuitiv zu erkennen, zu verurteilen und zu bedauern – schließlich sind viele der heutigen Menschenrechte weniger aus theoretischen Diskussionen heraus in Kraft gesetzt worden, sondern aus dem erschrockenen „Nie wieder“ einer von den Verbrechen der Nationalsozialisten betroffenen Weltöffentlichkeit. Immer wieder weisen Sen und Franziskus daher darauf hin: Demokratie braucht Mitgefühl – und Mitgefühl vervielfältigt unsere Handlungsoption, da es uns erlaubt, den Anderen zu verstehen, ohne ihn zu verzwecken zu müssen.

Mitgefühl als überlebensnotwendige Tugend der Gattung Mensch

Ohne die ausgeprägte Fähigkeit zum Mitgefühl wären der Mensch als soziales Wesen und damit die menschliche Gesellschaft als Ganzes nicht vorstellbar. Sen und Franziskus dabei legen besonderen Wert darauf, dass es zwar viele Staaten und Kulturen, aber nur eine menschliche Gesellschaft gibt. In einer globalisierten Welt ist Mitgefühl geradezu die überlebensnotwendige Tugend der Gattung Mensch: Es lässt uns die menschliche Zusammengehörigkeit über alle Grenzen hinweg spüren und ermöglicht uns rechtzeitiges und freiwilliges solidarisches Handeln, bevor uns Pandemien, brüchige Lieferketten oder globale Umweltschäden mit wesentlich höheren Folgekosten dazu zwingen. Der mitfühlende Blick auf die Marginalisierten ist damit auch eine Art gesellschaftliches Frühwarnsystem, da viele Schäden von den betroffenen Armen weniger gut kaschiert oder repariert werden können als von wohlhabenderen Gesellschaftsschichten. In diesem Zusammenhang ist Mitgefühl häufig auch ein Schlüssel zum besseren Verständnis weiterer Emotionen wie Frust, Neid oder Resignation, die den gesellschaftlichen Dialog gewöhnlich sehr erschweren. Wenn es einer Gesellschaft gelingt, diese vielfältigen Emotionen nicht zu ignorieren, sondern (selbst)bewusst wahrzunehmen, so besteht sogar die Chance, dass menschliche Gefühle (und allen voran das Mitgefühl) die wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse und gesamtgesellschaftlichen Entscheidungsprozesse nicht behindern oder überlagern, sondern unterstützen und vertiefen.

Eine heilsame Erschütterung der eigenen Perspektive

Um den dafür notwendigen Lernprozess in Gang zu setzen, braucht es allerdings – und auch da sind sich Sen und Franziskus einig – oftmals mehr als nur wohltemperiertes Mitgefühl. Beide setzen stark auf die persönliche Begegnung mit realem Unrecht und auf die heilsame Wirkung der Erschütterung des eignen Standpunkts. Dass diese Überzeugung auch biografische Wurzeln hat, zeigt sich bereits in Pater Bergoglios erstem Buch Korruption und Sünde[4], in dem anklingt, dass eine tiefe persönliche Erschütterung über verpasste Entwicklungschancen seiner Zuwendung zu den Armen vorausging. So scheint er zunächst als Beichtvater schmerzhaft begriffen zu haben, dass viele seiner gutbürgerlichen Gemeindemitglieder durch die Teilhabe an einem ungerechten, ja korrupten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und durch das Unterlassen von Mitleid und Mithilfe zunächst einmal viel eigenes menschliches Entwicklungspotential verschwendeten. In einem zweiten Schritt entdeckte und beklagte der Jesuitenpater diese Grundhaltung des Wegschauens, Wegfühlens und Beschönigens angesichts struktureller Ungerechtigkeiten dann an sich selbst – vielleicht auch in Erinnerung an seine herausfordernde Zeit als Provinzial der argentinischen Jesuiten (1973-79) während der Zeit der Militärdiktatur (1976-83). Die emotionale Betroffenheit über die Erkenntnis der eigenen (teils ohnmächtigen) Verstrickung in ungerechte (oder sündhafte) Strukturen drängte ihn dann in einem dritten Schritt dazu, das Unrecht zumindest dort und dann zu mindern wo es möglich ist, sei es durch Veränderung dieser Strukturen oder durch entsprechende Sühneleistungen bei den am stärksten Betroffenen – um bald schon zu bemerken, dass die persönliche Zuwendung zu den Armen für ihn wesentlich mehr bereithielt als eine bloße Gewissensberuhigung.

Auch am Anfang von Amartya Sens lebenslanger Beschäftigung mit der „Idee der Gerechtigkeit“ (so der Titel eines seiner wichtigsten Werke) steht eine ihn tief aufwühlende Unrechtserfahrung – er wird als Kind Zeuge, wie ein muslimischer Tagelöhner während Unruhen von seinen hinduistischen Nachbarn erstochen wird. Und ähnlich wie Papst Franziskus bemüht sich Sen darum, diese erschütternde Erfahrung über die Jahre wachzuhalten, um als Bürger und Wissenschaftler generell für Unrechtssituationen wachzubleiben. Ein hilfreiches Mittel, um diese emotionale Wachheit in handlichen, regelmäßigen Dosen einzuüben, schätzen Sen und Franziskus ganz besonders: die Kraft der Literatur.[5] Sen, der als Sohn eines Chemieprofessors größere Teile seiner Kindheit auf einem indischen Universitäts-Campus verbrachte, pflegte zeitlebens intensive Freundschaften mit führenden Literaten seiner Zeit und war in erster Ehe mit der bekannten indischen Dichterin Nabaneeta Dev Sen verheiratet. Ähnlich wie der (ähnlich literaturbegeisterte) Ökonom John Maynard Keynes vor ihm bereichert Sen seine Werke gerne mit den verschiedensten Stilmitteln und literarischen Querverweisen, so als wolle er seine Leser nicht nur mit Fakten überzeugen, sondern mit allen Mitteln zu einem (durchaus erschütternden) Perspektivwechsel verführen – so wie einst Bestseller wie Victor Hugos Les Misérables, Charles Dickens Oliver Twist und Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin; Life among the Lowly zum Verbot von Kinderarbeit, der Abschaffung der Sklaverei und der beginnenden Sozialgesetzgebung beitrugen. Ähnlich engagiert und anspielungsreich lesen sich die Enzykliken Laudato si‘ und Fratelli tutti, in denen Papst Franziskus auch in lyrischer Weise an sein Namensvorbild Franz von Assisi anknüpft: Die Armut wird nicht nur beschrieben, sondern in allen ihren Höhen und Tiefen ausgelotet, ja geradezu besungen; es ist die bildhafte, um persönliche Begegnung bemühte Sprache eines Mannes, der schon als junger Mann parallel zu seinem Theologie-Studium einen Lehrauftrag für Literatur an der ordenseigenen Hochschule wahrnahm und der sich vor allem für die hymnisch-mystisch-sinnliche Lyrik Hölderlins begeisterte. Doch Franz von Assisi und John Maynard Keynes sind für Sen und Papst Franziskus nicht nur stilistische Vorbilder: Sie halfen ihnen auch, sich auf frühe, oft Armuts-bezogene Quellen ihrer jeweiligen Disziplinen zu besinnen und dort die Bedeutung der Armutsperspektive für Theologie, Philosophie und Ökonomie neu zu entdecken.

Die Armuts- und Gerechtigkeitsfrage als Quelle vieler Wissenschaften

Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Amartya Sen im Oktober 2020 lobte die Jury drei wirkmächtige „Konzepte“ des Preisträgers, die „bis heute hohe Maßstäbe für die Ermöglichung, Gewährleistung und Bewertung gleicher Chancen und menschenwürdiger Lebensbedingungen setzen“: Der Human Development Index, der viele Hilfs- und Entwicklungsprogramme der Vereinten Nationen prägt, der Capabilities Approach (im Deutschen meist als Befähigungsansatz bezeichnet) und die Forschungen über etwa 100 Millionen Missing Women, mit denen Sen auf die weltweite – in diesem Fall tödliche – Benachteiligung vieler Frauen und Mädchen aufmerksam machte. In allen drei Fällen gewann Sen aus der Begegnung mit den ärmsten Bevölkerungsschichten Erkenntnisse, die in ihrer Relevanz deutlich über die Slums und Elendsregionen hinausgingen, in denen er sie erstmals bemerkte.

Doch die Armutsperspektive erlaubt der Ökonomie nicht nur einen Blick in die Zukunft, sie erlaubt ihr auch, ihre eigenen Quellen und Querverbindungen (und -verpflichtungen) zu anderen Disziplinen wiederzuentdecken. Für viele Wirtschaftswissenschaftler besteht die größte akademische Leistung Sens darin, dass er den ursprünglichen Anspruch der Ökonomie, die als „Gehilfin der Ethik“ (C.A. Pigou 1908)[6] in erster Linie zur „Erforschung und Bekämpfung von Armutsursachen“ (J.M. Keynes)[7] begründet wurde, wieder neu ins öffentliche Bewusstsein holte. Durch seine Beschäftigung mit Adam Smith (1723-1790), dem Begründer der klassischen Nationalökonomie, habe Sen maßgeblich zur „Wiedereinführung ethischer Bedenken und Konzepte in den wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs“[8] beigetragen und die Wirtschafts-wissenschaften daran erinnert, dass ihre Instrumente einst zur Optimierung knapper Ressourcen statt zur Maximierung von Wachstumsraten geschaffen wurden. So ruft Sen in Erinnerung, dass die von Smith beschriebene „unsichtbare Hand“ des Marktes den Wohlstand aller nicht dadurch steigert, dass jeder Marktteilnehmer an sich selbst denkt, sondern obwohl viele Akteure egoistisch handeln – und dies nur unter der Voraussetzung, dass alle am dadurch generierten Wachstum (mehr oder weniger stark) teilhaben.[9] Durch den vielschichtigen Perspektivenwechsel, den Sen immer wieder einfordert, und der nicht nur zwischen der Sichtweise unterschiedlicher Personengruppen, sondern auch unterschiedlicher Wirtschaftsmodelle und Wissenschaftsdisziplinen erfolgen sollte, wirkt er auch einer „Diktatur vermeintlicher Sachzwänge“[10] entgegen: Einzelne ökonomische Sichtweisen verlieren so einen Teil ihrer Suggestivkraft, indem sie wieder als wichtige, aber nicht alleingültige Modelle begriffen werden, die so manche menschliche Entscheidung und wirtschaftliche Entwicklung (wie Wettbewerb und Konkurrenzausschluss) zwar erklären, aber eben nicht entschuldigen können.

Konkretisierung der „Theorie der Gerechtigkeit“

Dieser vielfältige, mitfühlende Perspektivwechsel erlaubte es Sen auch, die „Theorie der Gerechtigkeit“ des von ihm sehr geschätzten (und dennoch häufig kritisierten) John Rawls weiterzuentwickeln. Der Philosoph Rawls hatte in seinen wegweisenden Gedankenexperimenten Anfang der 1970er Jahre gezeigt, dass eine wahrhaft gerechte Gesellschaftsordnung nur vorstellbar ist, wenn die Perspektive der Ärmsten bei den Beratungen über gerechte Regeln besonders beachtet wird – am besten dann, wenn die Teilnehmer eines solchen „Verfassungskonvents“ nicht wissen, ob sie künftig selbst von Armut betroffen sind. Sen dagegen verabschiedete sich – angeregt durch vielfältige persönliche Begegnungen mit den Ärmsten – von der thematischen Fokussierung auf die „vollkommene Gerechtigkeit“ und setzte darauf, Menschen zunächst ein Mindestmaß an Entfaltungsmöglichkeiten zu garantieren und dann ständige graduelle Verbesserungen zu ermöglichen. Da etwa ein Behinderter mehr an finanziellen oder materiellen Gütern benötige, um in gleicher Weise zur gesellschaftlichen Teilhabe fähig zu sein, sei es wichtig, vor allem auf Capabilities („Befähigungen“ oder umfassende Entwicklungs- und Beteiligungsmöglichkeiten) zu blicken, statt nur auf finanzielle Gleichverteilung oder auf eine Gleichberechtigung „auf dem Papier“. Gemeinsam mit der Philosophin Martha Nussbaum versuchte Sen dann in den 1980er Jahren, umfassend (und in Anlehnung an Aristoteles) zu ergründen, welche Entfaltungsmöglichkeiten denn in der Natur des Menschen angelegt seien und daher von einem wahrhaft „menschengerechten“ Wirtschafts- und Gesellschaftssystem besonders geschützt und gefördert werden sollten.  Die verschiedenen „Human Development Indices“ der Vereinten Nationen sind ein direktes Ergebnis dieser philosophisch-wirtschaftswissenschaftlichen Forschungen, die aus der Armutsperspektive heraus das Entwicklungspotential der gesamten Gesellschaft in den Blick nahmen.

Der „bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes“

In ähnlich umfassender Weise erinnert Papst Franziskus daran, wie eng der christliche Glaube mit der Armutsperspektive verknüpft ist: Da ist zunächst der „bevorzugte Platz der Armen im Volk Gottes“, wie es der Pontifex in seinem ersten apostolischen Schreiben Evangelii gaudium ausdrückte: Die besondere Liebe Gottes zu den Armen und Unterdrückten zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bibel. Bereits bei vielen (männlichen wie weiblichen) Propheten ist auffallend, dass diese nicht – wie in den meisten anderen Religionen und Zivilisationen ihrer Zeit üblich – von einer dem jeweiligen Königshof nahestehenden Priesterkaste gefördert und legitimiert wurden, sondern aus dem Volk heraus kamen und häufig in selbstgewählter Bedürfnislosigkeit lebten, um so gewissermaßen „befreit“ von materiellen Verpflichtungen zwei eigentlich getrennte Anliegen in enger Verbindung miteinander voranzubringen: eine Ermahnung aller Bürger, den persönlichen Glauben zu erneuern und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, nach Erlassjahren, Wucherverbot und Armenhilfe. Um dieser Forderung Gottes Nachdruck zu verleihen, setzten sich die Propheten regelmäßig Armut, Entbehrungen und politischer Verfolgung aus – bis sich dann nach christlicher Überzeugung Gott selbst in der Person Jesu der Welt ganz „aussetzte“ und selbst „arm wurde“, wie Papst Franziskus in Evangelii gaudium betont und feststellt: „Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen seine erste Barmherzigkeit“ (EG Nr. 198) – allerdings nicht, weil die Armut gut oder gottgewollt ist, sondern weil Gott gut ist und niemanden ungewollt allein lässt.

Aus diesem Grund verdienen die Marginalisierten nicht nur die besondere Zuwendung aller Christen, sondern sollten auch als „Mittler des Lichts“ (Papst Franziskus in Lumen fidei Nr. 57) mit ihrer spezifischen Glaubens- und Lebenserfahrung besondere Aufmerksamkeit erfahren: Ohne ihre Perspektive würden der Kirche – und jedem einzelnen Christen – etwas Wesentliches fehlen. Doch die christliche Zuwendung sollte sich nicht nur im gegenseitigen Mit-Teilen, Mit-Helfen und Mit-Fühlen erschöpfen, sondern umfasst auch das Mit-Leiden – Pater Bergoglio nannte die Teilhabe am Kreuz schon früh „Ankergrund des Christseins“; sein Ordensbruder, der Theologieprofessor Jon Sobrino, bezeichnet die Bereitschaft zum Mitleiden gar als „letztgültig für das theologische Denken“[11], welches das messianische Christentum davor bewahrt, zu einer rein „bürgerlichen Religion“ des behaglichen Status-Quo-Erhalts zu werden. So ist Armut auch eng mit der Glaubwürdigkeit der Nachfolge verbunden und ein einfacher Lebensstil nicht nur Schlüssel zum tieferen Verständnis der Person Jesu, sondern auch Schlüssel für die glaubwürdige Vermittlung an Dritte. Schließlich kann sich das Christentum, das im weltweiten Maßstab längst zu einer „nicht-westlichen Religion der Armen geworden“[12] ist, nur dann als wirkliche Einheit begreifen, wenn die Armutsperspektive der überragenden Mehrheit der Gläubigen auch von der wohlhabenderen Minderheit zumindest ansatzweise verstanden wird – und gerade der Bischof von Rom als Hüter dieser Einheit tut gut daran, diese tatsächliche Mehrheitsperspektive immer wieder ins Bewusstsein aller Christen zu rücken.

Anklänge zu Rerum novarum

Freilich ist keine dieser Einsichten neu oder revolutionär – vielmehr macht der Blick auf die Weise, wie Papst Franziskus die christliche Soziallehre behutsam weiterentwickelt, deutlich: Dieser Papst nutzt die Armutsperspektive, die immer aktuell (und in gewisser Weise auch stets revolutionär) ist, da sie darauf aufmerksam macht, was der Mensch tatsächlich dringend benötigt – er nutzt sie, um damit den zeitlosen Kern der christlichen Botschaft freizulegen. Dies zeigt sich sehr deutlich in seiner Enzyklika Laudato si‘, die in Struktur und Argumentationsweise immer wieder an die erste Sozialenzyklika erinnert: Auch am Beginn von Rerum novarum, von Papst Leo XIII. 1891 veröffentlicht, steht eine tiefe Erschütterung über beobachtetes Leid und Unrecht. Und um die notwendige Aufmerksamkeit und Zustimmung möglichst vieler Zeitgenossen – auch weit außerhalb der katholischen Kirche – zu gewinnen, fragte Papst Leo (ähnlich wie später Papst Franziskus) zunächst: Auf welche Grundannahmen über den Menschen können wir uns einigen – und welche Hilfen können ihm daher gerecht werden? Wohlwissend, dass der anfängliche Versuch einer genauen (christlich-biblisch fundierten) Definition „Was ist der Mensch?“ den Streit der verschiedensten Weltanschauungen hervorgerufen hätte, setzen beide Päpste auf die weniger einengende Frage „Was braucht der Mensch?“. In Rerum novarum beginnt Leo XIII. seine Überlegungen mit der Feststellung, den Menschen zeichne die besondere Fähigkeit aus, seine Zukunft planen zu können – daher sei es angemessen, dass er über adäquate Besitz- und Teilhaberechte verfügen solle, um sich entsprechend seiner menschlichen Fähigkeiten entfalten zu können. In ähnlicher Weise ruft Papst Franziskus in Laudato si‘ zunächst den aktuellen Stand des menschlichen Wissens über Klimawandel und soziale Ungleichheiten in Erinnerung und fragt dann, welche Fähigkeiten bereits im Menschen angelegt sind, um mit diesen Herausforderungen zurechtzukommen – um dabei eben besonders die Befähigung zur Liebe, zum Mitgefühl, zur Verantwortungsübernahme und zum Dialog zu entdecken.

Ähnlichkeiten zwischen der christlichen Soziallehre und dem Befähigungsansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum

In diesem Bemühen um die Grundlagen einer „ganzheitlichen menschlichen Entwicklung jeder Person“[13] zeigen sich besonders deutlich die Ähnlichkeiten zwischen der christlichen Soziallehre und dem Befähigungsansatz von Amartya Sen und Martha Nussbaum.[14] Beide sind in den Spannungsbogen zwischen Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Verantwortung, Rücksichtnahme und Selbstverwirklichung hineingepflanzt und begreifen sich daher nicht als geschlossenes Lehrsystem, sondern als lösungsorientiertes „Gefüge offener Sätze“[15]. Sowohl Sen als auch Franziskus vertrauen dabei in besonderer Weise der schrittweisen „Gradualität“, also dem Wachsen und Werden auf ein Ideal hin und weniger dem frühen Urteil, ob dieses Ideal bereits eindeutig erfüllt ist. Zwar ist die Betonung der Gradualität im Denken von Papst Franziskus besonders in der Diskussion um dessen Schreiben Amoris laetitia ins öffentliche Bewusstsein gerückt, als es um das Ideal christlicher Ehe und Partnerschaften und um den Umgang mit menschlichem Scheitern geht, doch sind für Franziskus Familie und Gesellschaft, Wirtschaft und Individuum immer gemeinsam in den Blick zu nehmen und auf das gleiche Ziel hin zu ordnen. So ist die Feststellung, der Papst spreche „mehr von Tugenden statt von Normen, es wird narrativ präsentiert statt präskriptiv vorgeschrieben und das Ideal der Ehe wird gepriesen statt auf die Normumsetzung gepocht“[16], so dass „alle integriert werden können“, typisch für die grundlegende Argumentationsweise dieses Papstes. Bei diesem dezentralen Ringen um mehr Gerechtigkeit für jeden Einzelnen „baut Franziskus auf das Gewissen, dessen existenzial-ethische Funktion er (…) deutlich stärkt, als Ort der Unterscheidung für den einzelnen Gläubigen“[17]. Eng damit verbunden ist die Einsicht, dass diese Stärkung der Eigenverantwortung nur mit mehr Subsidiarität möglich ist. So lassen viele kirchliche Strukturreformen von Papst Franziskus, seine Familienpastoral ebenso wie seine Wirtschaftskritik häufig seine Überzeugung erkennen, der Einzelne müsse besser befähigt werden, eigenverantwortlich das Gute zu tun. Die häufig geäußerte Kritik, er würde dabei zu sehr auf das Individuum vertrauen und sich zu wenig mit der Notwendigkeit von institutionellen Regelungen beschäftigen, trifft dabei übrigens gleichermaßen auf Papst Franziskus und Amartya Sen zu.

Zentrale Erkenntnisse aus der Armutsperspektive

Vor allem die Bedeutung bürgerlicher Teilhabe und demokratischer Mitbestimmung, die weltweit immer wieder angezweifelt werden, begründet Sen sehr überzeugend mit Daten abseits des ökonomischen Mainstreams: So zeigt er anhand umfangreicher Analysen der Hungersnöte des 20. Jahrhunderts, dass nicht der Reichtum eines Landes oder die Qualität seiner Infrastruktur darüber entschied, ob Bürger in Notzeiten verhungern mussten, sondern die (in Demokratien nicht längere Zeit unterdrückbare) Garantie von Presse- und Meinungsfreiheit. So kam es im kolonialen Indien letztmals zu dramatischen Hungersnöten, als die britischen Verwalter während des Zweiten Weltkriegs eine strikte Pressezensur verhängten; mit dem Ende der Kolonialherrschaft (die wie fast alle Regime nur durch Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit stabilisiert werden konnte) drängten öffentliches Mitleid und Empörung die politisch Verantwortlichen zu deutlich schnellerer Hilfe – ein Muster, das sich in allen halbwegs funktionierenden Demokratien des globalen Südens wiederholte, während im unfreien, aber wirtschaftlich deutlich reicheren China noch viele Jahre länger Millionen Hungertote zu beklagen waren.

„Fit werden durch den demokratischen Diskurs“

Genauso gelingt es Sen, die von autoritären Regimen am häufigsten gebrauchten Argumente gegen politische Freiheit und Bürgerrechte gerade dadurch zu widerlegen, dass er die Armen und Marginalisierten selbst zu Wort kommen lässt, zu deren vermeintlichen Schutz die staatlichen Repressionsmaßnahmen meist erlassen werden. So werden die oft replizierten Behauptungen, „Freiheiten und Rechte seien ein Hemmschuh für Wirtschaftswachstum und Entwicklung“ [18], demokratische Teilhabe sei ein typisch westlicher Luxusartikel und den Armen wäre die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse wichtiger als politische Freiheit, von Sen widerlegt, indem er Daten und Zeugnisse aus den ärmsten Bevölkerungsschichten oder aus der Zeit der Sklavenbefreiung in den amerikanischen Südstaaten heranzieht und immer wieder zeigt: Länder müssen nicht durch die Reformprogramme autoritärer Herrscher „fit für die Demokratie“ gemacht werden, sondern werden „fit durch die Demokratie“. Der zentrale Faktor ist dabei offenbar der freie Informationsfluss, der Lernen und Innovation, Wettbewerb und die Benennung von Verantwortlichkeiten ermöglicht, der Emotionen weckt, die Solidarität ermöglichen – eine große Kraft, die Regime, die nicht von der demokratischen Zustimmung ihrer Bevölkerung getragen werden, aus guten Gründen einschränken (müssen).

Mit dem Motto „Fit werden durch den demokratischen Diskurs“ oder „Wachsen im mitfühlenden Dialog“ könnte man auch den Entwicklungsprozess der christlichen Soziallehre charakterisieren. Sie ist gekennzeichnet durch eine ständige Ausweitung des Blickfeldes: Stets waren es grundlegende Rechte aller, die angesichts der konkreten Bedrohungssituation einer einzelnen Randgruppe zunächst emotional erkannt, dann im Austausch unterschiedlicher Argumente möglichst umfassend begründet und schließlich durch viele Einzelvorschläge möglichst gut gestärkt wurden. So wuchs mit jedem neuen Blick auf eine marginalisierte Gruppe das Verständnis um das Gesamtpotential (und die Rechte) aller Menschen: Von den Besitz- und Beteiligungsrechten einfacher Arbeiter über die Mitwirkungsrechte aller Gruppen innerhalb eines Sozialstaats zum Recht auf Frieden und freie Entwicklung aller Nationen, bis hin zu den Rechten auf fairen Handel und solidarische Hilfe besonders für Entwicklungsländer – und schließlich erweiterte Papst Franziskus diesen Blick auf „alles was lebt“. So werden umfassendere Tierrechte, die über den reinen Schutz „um der Menschen willen“ oder zur „Vermeidung unnötiger Schmerzen“ hinausgehen, denkbar, so werden globale Ökosysteme als schützenwerte Gemeingüter bezeichnet und die Vorstellung entwickelt, dass es ein Weltgemeinwohl geben könnte, das über nationalen Regelungen steht. In Fratelli tutti macht Papst Franziskus seine Leser mit der Vision kollektiver Weltbürgerrechte, mit einem „Recht auf Ressourcen“, das sich nicht an Landesgrenzen, sondern an Bedürftigkeit orientiert, und mit dem „Recht auf Einwanderung“ vertraut – allesamt Vorschläge, die momentan utopisch klingen, aber von Papst Franziskus bewusst in die öffentliche Diskussion eingeführt werden, um zunächst „denkbar“ und dann eines Tages greifbar zu werden – so wie viele heute selbstverständliche Rechte. Amartya Sens langjährige Wegbegleiterin Martha Nussbaum beschreibt in ihrem 2006 erschienenen Werk Frontiers of Justice übrigens eine ganz ähnliche Entwicklung und fordert uns heraus, neue Institutionen, die menschliches Wachstum ermöglichen, zunächst einfach nur „denkbar“ zu machen.

Subsidiarität und neue Institutionen

In diesem Zusammenhang kann eine Grundidee des Befähigungsansatzes auch viel zur aktuellen Diskussion um „Klimagerechtigkeit“ beitragen: Statt sich im Ringen um „perfekte Gerechtigkeit“ (etwa bei der Verteilung von CO2-Budgets) zu erschöpfen, sollte die Zeit genutzt werden, sich zunächst um „akzeptable Gerechtigkeit“ zu bemühen und dafür auf ein Mindestmaß an Befähigungsrechten für jeden Menschen zu einigen. Konkret würde das bedeuten, weniger über die gerechte globale Verteilung der Nutzungsrechte der letzten fossilen Brennstoffe zu verhandeln, sondern jedem Menschen weltweit das gleiche Recht auf Mobilität, auf Kommunikation oder auf eine menschenwürdig temperierte Wohnung zuzusichern – das natürlich in verschiedenen Regionen auf technisch unterschiedliche Weise erfüllt werden kann. Auch müssen neue Institutionen „denkbar“ gemacht werden: Wenn das Weltklima tatsächlich ein globales Gut ist und der Kohlendioxid-Kreislauf der Erde mindestens so schützenswert wie die Stabilität des Geldkreislaufes ist, so ist es höchste Zeit, über Einrichtungen von „CO2-Zentralbanken“ nachzudenken, die mit ähnlichen Kontrollvollmachten ausgestattet werden müssen wie ihre Vorbilder in der Finanzindustrie.

Die Einrichtung neuer Institutionen wird aber auf große Skepsis vieler Bürger wie lokaler Politiker treffen, wenn nicht gleichzeitig ein altgedientes Leitbild der christlichen Sozialethik mit neuem Leben erfüllt wird: das freiheitsdienende Prinzip der Subsidiarität. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts basierten auf dem Versprechen kleiner Minderheiten, sie würden schnell und ohne falsches Mitgefühl die richtigen Entscheidungen zum Wohl der großen Mehrheiten treffen – das 21. Jahrhundert hat indes (auch dank der Möglichkeiten der Digitalisierung) die Chance, ein transparentes Verantwortungsnetzwerk zu knüpfen, in dem alle voneinander lernen können. Die Impulse und Einsichten aus dem Lebenswerk von Amartya Sen und Papst Franziskus können als Inspiration und Mutmacher für diejenigen dienen, die an der Kraft der Demokratie zweifeln, da sie immer wieder zeigen, dass Mitgefühl und Teilhabe wesentlich dazu beitragen können, das menschliche Entwicklungspotential zu entfalten. Gerade im 21. Jahrhundert, in dem wohl auch materielle Einschränkungen und engerer gesellschaftlicher Zusammenhalt zur Bewältigung der Umweltkrise notwendig sind, kann die Menschheit gerade von den Ärmsten und Marginalisierten noch viel lernen – für die Zukunft und über sich selbst.

Anmerkungen

[1]    Vgl. Wissenschaftliche Arbeitsgruppe für Weltkirchliche Aufgaben der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (2018): Raus aus der Wachstumsgesellschaft? Eine sozialethische Analyse und Bewertung von Postwachstumsstrategien, Studien der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ Bd. 21. Bonn.

[2]    Gesang, Bernward (Hg.) (2014): Kann Demokratie Nachhaltigkeit? Wiesbaden.

[3]    Sen, Amartya (2005): Why Exactly is Commitment Important for Rationality? In: Economics and Philosophy 21(1), 5-14.

[4]    Bergoglio, Jorge (2013[1991]): Korruption und Sünde. Eine Einladung zur Aufrichtigkeit. Spanische Erstveröffentlichung 1991, deutsche Version beruht auf deren überarbeiteten Neuauflagen 2005/2013. Freiburg.

[5]    Zu der oft unterschätzten Frage, wie Literatur die öffentliche Meinungsbildung positiv beeinflussen kann, vgl. Nussbaum, Martha (1995): Poetic Justice: The Literary Imagination and Public Life. Boston.

[6]    Eife, Franz (2010): Auf den Spuren von Amartya Sen. Zur theoriegeschichtlichen Genese des Capability-Ansatzes und seinem Beitrag zur Armutsanalyse in der EU. Forschungsergebnisse der Wirtschaftsuniversität Wien, Bd. 38. Frankfurt; Zitat S. 89.

[7]    Pressmann, Stefan (1991): Keynes and Antipoverty Policy. In: Review of Social

Economy 49 (3), 365-382; Zitat S. 365.

[8]    Walsh, Vivian (2003): Sen after Putnam. In: Review of Political Economy 15 (3),

315-394; Zitat S. 316.

[9]    Einsiedel, Stefan (2020): Partizipation als Antwort auf Armut und Klimawandel. Armuts- und Teilhabeforschung auf den Spuren von Amartya Sen und Papst Franziskus. München, S. 101ff.

[10]  Dierksmeier, Claus (2016): Qualitative Freiheit. Selbstbestimmung in weltbürgerlicher

Verantwortung (Edition Moderne Postmoderne). Bielefeld; Zitat S. 306.

[11]   Vgl. Sobrino, Jon (2016): 50 Jahre für eine Zukunft des Christentums und der Menschheit. 50 Jahre Konzil. In: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie. 52. Jahrgang, Heft 1 März 2016, 54-68.

[12]   Field, David (2013): Über das (Wieder)zentrieren der Ränder. Eine Euro-Afrikanische Perspektive auf die Option für die Armen. In: Nehring, Andreas u. Tielesch, Simon (Hrsg.): Postkoloniale Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge. Stuttgart, 225-250; Zitat S. 225.

[13]   Schallenberg, Peter (2020): Fünf Jahre „Laudato si‘“. Ansätze zu einer „augustinischen“ Ökologie des Menschen. Kirche und Gesellschaft Nr. 472. Mönchengladbach.

[14]   Vgl. hierzu Winkler, Katja (2016): Befähigungssemantiken in der theologischen Ethik. Kritische Analyse der Rezeption des Capabilities Approach in der deutschsprachigen christlichen Sozialethik. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 57, 269-294.

[15]   Wallraff, Hermann Josef (1975): Katholische Soziallehre – Leitideen der Entwicklung? Eigenart, Wege, Grenzen. Walter-Raymond-Stiftung. Köln.

[16]  Schlögl-Flierl, Kerstin (2017): Epikie und Gradualität im Kontext der Barmherzigkeit im Postsynodalen Schreiben Amoris Laetitia von Papst Franziskus. In: das prisma 1/2017, 20-27; Zitat S. 25

[17]  Ebd.

[18]   Vgl. Sen, Amartya (2002): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München, 182 ff.

 

 

 

 

 

Der Verfasser

Dr. Stefan Einsiedel, Biologe und Wirtschaftswissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator für die Bereiche Umweltethik und Nachhaltigkeit am Zentrum für Globale Fragen der Hochschule für Philosophie in München.