Lars Schäfers | 02. Februar 2022
Menschenwürde und Armut
Aktuelle Facetten in Deutschland aus christlicher Sicht
Immer wieder entzünden sich Debatten an der Frage, wer in einem reichen Industrieland wie Deutschland eigentlich wirklich als arm bezeichnet werden kann. Relativ arm ist nach gängiger Definition, wer mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens auskommen muss. In Deutschland lag die entsprechende Armutsgrenze beispielsweise 2018 für einen Alleinlebenden bei 1.135 Euro im Monat. Doch auch wenn diese Zahl nicht so drastisch erscheint, auch relative Armut ist ein leidschaffender Mangel – nicht nur an finanziellen, sondern auch an sozialen und kulturellen Ressourcen und bedeutet für die Betroffenen fehlende Teilhabe und damit Exklusion aus der Mehrheitsgesellschaft. Sozialethisches Leitbild der Kirchen in Deutschland aber ist gemäß dem Sozialwort von 2014 die umfassende Inklusion und Partizipation aller Menschen in unserem Land.
Armut ist darüber hinaus zudem würdewidrig. Die unantastbare Menschenwürde, auf der unser Grundgesetz fußt, wird durch Armut verletzt: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) leitet aus dem Menschenwürdeprinzip in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ein „unverfügbares“ Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für jeden ab. Dementsprechend stehen die Verfassungsmäßigkeit des Regelsatzes des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) und mehr noch die Regelsatzkürzungen als Sanktionsmaßnahmen auch regelmäßig in Frage. Hinzu kommt, dass es nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch bei uns in Deutschland Formen von absoluter Armut gibt. Absolute Armut sollte hierzulande dank sozialstaatlicher Leistungen eigentlich nicht vorkommen; doch es gibt sie. Das ist vor allem dann der Fall, wenn Menschen staatliche Hilfen nicht beanspruchen oder nicht beanspruchen können. Wer zum Beispiel weder Obdach noch Bankkonto noch die erforderlichen Dokumente besitzt, fällt schnell durchs Raster. Christliche Diakonie als eine der drei elementaren Sendungen der Kirche, nimmt sich der Armen an und hilft nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters da, wo sie kann. Und Christliche Sozialethik betont den Grundsatz, dass die Güter der Erde für alle Menschen bestimmt sind und somit jeder Mensch würdegemäß an ihnen Anteil erhalten sollten.
Armutsdiskurse sind schließlich ein zentraler Ort, an dem sich die Stimme der Katholischen Soziallehre und Christlichen Sozialethik bewähren muss. „Eine arme Kirche für die Armen“ fordert Papst Franziskus und stellt damit ganz grundlegend die Armen wieder in den Fokus kirchlichen Handelns. Eine Option für die Armen gibt es als zentrales Prinzip in der Christlichen Sozialethik aber schon seit den wegweisenden Bischofssynoden im kolumbianischen Medellín 1968 und im mexikanischen Puebla 1979. Die Option für die Armen gründet auf biblischem Humus, dabei besonders auf den Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu Christi. Gemäß dem bewährten Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln schaut Christliche Sozialethik im Sinne einer Gegenwartsanalyse dabei zunächst einmal nach den „Zeichen der Zeit“, nach dem, was ist. Dementsprechend können mit Blick auf die Lage bei uns in Deutschland derzeit drei besonders ungerechte Dimensionen von Armut ausgemacht werden:
Wer Hartz IV bekommt, ist (relativ) arm. Und es gibt Menschen, die trotz Vollzeitstelle und trotz des (noch immer noch zu niedrigen) Mindestlohns ergänzend aufstocken müssen; darin zeigt sich die besonders ungerechte Form der Armut trotz Arbeit. Zu schlecht bezahlte Arbeit ermöglicht letztlich nur sehr wenig gesellschaftliche Inklusion. Sie ist ein Ergebnis des durch die Agenda-Politik massiv ausgeweiteten Niedriglohnsektors. Auch die Kinder der Menschen, die ohne oder mit Arbeit auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, leben erschreckend oft in Armut. Kinderarmut ist somit eine weitere besonders beklagenswerte Form von Armut.
Der Niedriglohnsektor ist aber auch eine Mitursache noch einer weiteren Armutsdimension, nämlich der zunehmenden Altersarmut. Für viele Menschen, die jahrzehntelang für Niedriglöhne gearbeitet haben, bleibt eine gesetzliche Rente oberhalb des Grundsicherungsniveaus unerreichbar; auch die neu eingeführte Grundrente ist in Fällen dafür nicht ausreichend. Von daher ist es dringlich, die Alterssicherung wieder armutsfest zu machen.
Eines aber stimmt auch: Vielen Menschen in Deutschland geht es gut bis sehr gut und unser Sozialstaat ist insgesamt und im Vergleich mit vielen anderen Ländern stark. Doch die wachsende Armut im Land ist ein gegenläufiger Trend, der insbesondere seit dem Ausbruch der Coronapandemie noch beschleunigt wurde und immer mehr Menschen betrifft. Hier ist nicht nur die Politik, sondern letztlich auch die Kirche gefragt mit ihrer Soziallehre, ihrer Sozialsorge und ihren Sozialverbänden. Dabei sollten kirchliche Sozialverkündigung, wissenschaftliche Sozialethik, die Caritas sowie engagierte Christen in Initiativen und in den katholischen Verbänden im besten Fall in je eigener Verantwortung „arbeitsteilig“ zusammenwirken. Denn es geht letztlich darum, auf verschiedenen Ebenen nach Maßgabe Jesu Christi für Gerechtigkeit und die Würde der Armen aller Art einzutreten.
Der Verfasser
Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.