Pater Bruno Esposito O. P. | 16. April 2021

Nur wenn ihr Opfer einer Ungerechtigkeit geworden seid …

Ein rechtsethischer Beitrag

… werdet ihr wirklich und bis auf den Grund verstehen, was Gerechtigkeit ist – besser als durch alle Definitionen und Erklärungsversuche, die von Cicero und Ulpian (Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris principia sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere: D. 1.1.10 pr) und Weiteren dazu vorgelegt wurden. Nur dann, wenn man sich als Opfer einer objektiven Ungerechtigkeit fühlt, beginnt man die Wichtigkeit, ja die unausweichliche Notwendigkeit der Gerechtigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu verstehen. Das gilt für das staatliche Zusammenleben ebenso wie für das kirchliche. Denn jedes Mal, wenn man eine Ungerechtigkeit erlebt, ist dies so als wenn einem ein lebenswichtiger Teil seiner selbst entrissen würde.“

In meinen vierundzwanzig Jahren der Lehre habe ich das Fach „Rechtsphilosophie“ immer mit dieser Einleitung begonnen, wenn ich das Thema der Gerechtigkeit und ihres Verhältnisses zu Recht und Gesetz erläutern musste. Dabei versuchte ich jedes Mal, das alles in den Kontext jenes Rätsels zu stellen, das die menschliche Freiheit darstellt; und suchte bewusst zu machen, dass man schlussendlich nur dann wahrhaft frei sein kann, wenn man sich an bestimmte Regeln hält. Dabei betonte ich: das Problem ist nicht, Regeln zu haben oder nicht, sondern einzig und allein, dass diese gerecht sein müssen. Da der Mensch von seinem Wesen aus dazu berufen ist, mit den anderen zusammen zu leben, kann er sonst diese Wesensdimension seiner selbst nicht voll realisieren. Paradoxerweise würden sich selbst in der Utopie einer anarchischen Gesellschaft, in der das Prinzip völliger Regel- und Gesetzlosigkeit herrschte, de facto alle an irgendeine Regel halten! Schlussendlich also geht es nicht um Formeln und Definitionen, also abstrakte Prinzipien außerhalb des alltäglichen Lebens, sondern ganz konkret darum, jene „Goldene Regel“ als ständiges Ziel zu nehmen, die Christus uns hinterlassen hat: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7, 12).

All das hat sich mir in diesen Tagen unwiderstehlich aufgedrängt anhand der Nachrichten in Tageszeitungen und Fernsehberichten über das unter den vielen  weniger bekannte Schicksal des Studenten Patrick Zaki, der vor mehr als einem Jahr in Ägypten in Vorbeugehaft genommen wurde (manche sprachen auch von „Präventivkrieg“ mit den Folgen, die wir alle kennen …) wegen „vermuteter subversiver Tätigkeit“. Dabei wurde zweifellos genau nach dem geltenden Gesetz vorgegangen. Oder über die Festnahme der De-facto-Regierungschefin von Birma Aung San Suu Kyi durch das Militär von Birma, welches vor einem Jahr die Macht an sich gerissen und das „Kriegsrecht“ verhängt hat (die Festnahme erfolgte schamlos und unter der höhnischen und lächerlichen Behauptung, die in Wahrheit nichts anderes war als nackte Gewalt: „Besitz von vier illegal importierten walkie talkie“). Oder, als letztes Beispiel, über die Verurteilung des russischen Dissidenten Alexei Nawalny zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft, der seiner versuchten Ermordung durch Gift entkommen war. Die Entscheidung des Richters knüpfte an den Prozess Yves Rocher aus 2014 an, in dem der Dissident der Unterschlagung für schuldig erachtet worden war. Im Gerichtssaal stieß der Dissident den Schrei aus: „Ich fordere die sofortige Freilassung für mich und alle politischen Gefangenen. Dieses Polit-Theater ist illegal“.

Dies sind nur die jüngsten und eklatantesten Fälle. Aber wie viele offenkundige Ungerechtigkeiten passieren in jedem Augenblick in den Familien, am Arbeitsplatz, im Bereich der Religionsgemeinschaften, in der Welt des Sports? Oftmals und gerne geschieht das mit der Rechtfertigung oder Mithilfe eines „Gesetzes“, dank eines „Gesetzes“; im Lauf der Jahrhunderte wurden Personen verbrannt, hingeschlachtet, wurden ganze Ethnien ausgelöscht, wurden ungezählte Menschen in Konzentrationslagern festgehalten, wurden Kategorien von Personen in Ghettos eingeschlossen, ihr Hab und Gut konfisziert. Von Erich Kaufmann stammt eine diesbezügliche unvergessliche Mahnung: „Der Staat schafft nicht das Recht, der Staat macht Gesetze; Staat und Gesetze aber stehen unter dem Recht“ (siehe das P.S. am Ende dieser Überlegungen). Der gesunde Menschenverstand sagt uns heute (aber es war offenkundig nicht dasselbe für jene, die all das erlebt haben .. daher gilt: das kann auch uns passieren!), weshalb diese sog. „Gesetze“ nicht wahre Gesetze waren und sein konnten, ja nicht einmal den Anschein eines Gesetzes hatten; sie waren ganz einfach deshalb nicht Gesetze, weil sie der Gerechtigkeit entbehrten. Der große Thomas von Aquin hat diese triste Wahrheit lapidar herausgestellt, indem er daran erinnerte, dass solche Gesetze in Wahrheit keine Gesetze sind, sondern ihr entstelltes Zerrbild; das liegt unausweichlich vor, wenn das menschliche Gesetz seine Beziehung zum göttlichen Gesetz verloren hat („Si vero in aliquo a lege naturali discordet, iam non erit lex sed legis corruptio“: S. Th., I-II, q. 95, a. 2). Das Traurigste daran ist, dass diese Gesetze zumeist in formeller Hinsicht als wirkliche Gesetze in einer bestimmten Gesellschaft gelten, auch wenn sie diktatorisch auferlegt oder demokratisch in einem Parlament verabschiedet wurden. Das offenbart die menschlich schwache Seite der Demokratie, die sich auf den Konsens der Mehrheit stützt. Tatsache ist, dass der Konsens nicht gleichbedeutend ist mit Gerechtigkeit. Für die Gerechtigkeit hat der Konsens soviel Bedeutung wie für die Tatsache, dass zwei und zwei gleich vier ist, d.h. keinerlei Bedeutung! Damit soll absolut auf keine Weise die demokratische Regierungsform in Frage gestellt werden, sondern lediglich auf ihre inneren Grenzen hingewiesen werden, ähnlich wie einer der Väter der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, Benjamin Franklin (1706-1790), festgestellt hat: „Die Demokratie, das sind zwei Wölfe und ein Lamm, die darüber abstimmen, was sie zum Frühstück verzehren werden. Die Freiheit ist ein gut bewaffnetes Lamm, welches sich dem Abstimmungsergebnis widersetzt.“

Neben Gesetzen, die sichtlich usurpieren und zerstören und dadurch Funktion und Bedeutung des Gesetzes zersetzen, gibt es Fälle – sie scheinen mir bedauerlicherweise die Mehrheit dazustellen – in denen der Gebrauch und die Anwendung von Gesetzen willkürlich erfolgt, obwohl diese Gesetze in sich gerecht und für die Verwirklichung des Zusammenlebens mit dem Ziel des Gemeinwohls nützlich sind. Willkürlich in dem Sinne, dass die Ausübung von Autorität sich in Wirklichkeit als reiner Autoritarismus und reine Machtausübung herausstellt. Dort, wo sie Garanten sein sollten, erweisen sie sich als opportunistische Nutznießer, die sich das zunutze machen, was zum Wohle aller bestimmt wäre, um ihre persönlichen Interessen oder jene der Gruppe, der sie angehören, zu befriedigen. Sie sind überzeugt, dass die Rolle, die sie bekleiden, sie autorisiert, sich wie die römischen Imperatoren zu fühlen, die – auch wenn das in Wirklichkeit zu Beginn nur auf einige Gebiete des Privatrechts zutraf – sich nicht als gesetzesunterworfen und an das Gesetz gebunden ansahen („Princeps legibus solutus““: D. 1, 3, 31). Personen, die berufen sind, der eigenen Institution zu „dienen“, sich aber stattdessen ihrer bedienen und sie geringachten, und dabei die Normen nicht gebührlich anwenden, in der festen Überzeugung niemandem Rechenschaft schuldig zu sein (hoffentlich nur auf dieser Welt!), und die in jedem Falle ungestraft bleiben, weil sie sich selbst Autorität sind und selbst alle Macht besitzen. Es kommen einem die dem Präsidenten des Ministerrates des Königreiches Italien Giovanni Giolitti (1892-1921) zugeschriebenen Worte in den Sinn, auch wenn sie in hohem Maße zynisch erscheinen mögen: „Was ist das Gesetz? Es ist dasjenige, was man auf die Feinde anwendet und für die Freunde auslegt“. Aber diese Art und Weise, das Gerechtigkeitsstreben auf den Kopf zu stellen, zeigt sich in besorgniserregender und, ich würde fast sagen skandalöser Weise im Bereich der Gerichtsbarkeit. Gerade in diesem Bereich kann man durchgehend feststellen, wie die Richterschaft nicht wirklich unabhängig ist, und wie die Gerechtigkeit nicht nur nicht mehr mit verbundenen Augen (unparteiisch) existiert, sondern die Ohren weit geöffnet hat für die Meinungen der Medien und die Urteile, wie sie vielleicht in einer talk show geäußert werden; wo es kein wirkliches Verteidigungsrecht des Angeklagten gibt – etwas, was auch Gott dem Adam zugestanden hat (vgl. Gen 3, 9-13) – wenn man die Identität des Anklägers geheim hält oder seiner Glaubwürdigkeit keine Beachtung schenkt, alles essentielle Elemente unserer eigenen Rechtskultur; wo man im Namen von juristischen Kniffen und Spitzfindigkeiten die elementarsten Regeln des Umganges mit der Gerechtigkeit nicht mehr respektiert, wann und für wen dies angebracht ist. Auf diese Weise gerät eine einfache Wahrheit in Vergessenheit, der aber, wie jeder Wahrheit, absolute Unverletzlichkeit eignet, nämlich dass man zum Richter geht, damit dieser Gerechtigkeit herstellt, und dieser nicht denkt, dass er sie erschaffe, so als wäre er Gott.

Im Lichte dieser einfachen Überlegungen über die Geschichte und über das Heute, die kein Urteil sind und nicht als solches verstanden werden dürfen, müssen wir uns die für ausnahmslos jeden Menschen lebenswichtige Notwendigkeit bewusst machen: es gilt, die wahre Gerechtigkeit, die jedem zuteilwerden lässt, was ihm zusteht, und die wir im Glauben als von Gott geschenkt erkennen, immer vollständiger zu verwirklichen. Dieses Bemühen, das auf dieser Welt nie vollkommen gelingen wird, hat seinen Ausgangspunkt genau dort, wo wir Kenntnis nehmen von den ständigen Verhaltensweisen, welche die Gerechtigkeit missachten oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Dabei nehmen wir zur Kenntnis, dass wir nicht ein „Schauspiel der Illegalität“ unterstützen, sondern dass es sich dabei um eine Verunstaltung einer der kostbarsten Wirklichkeiten unseres menschlichen Wesens mit und für die anderen handelt; und wir entdecken, dass die Beachtung der Gerechtigkeit die erste Form der Liebe ist: nulla est Caritas sine Iustitia. In all dem steht nicht nur die Glaubwürdigkeit der Gesellschaft und der diversen Institutionen auf dem Spiel, sondern vor allem das Gemeinwohl. Denn dieses verwirklicht sich in dem Maße, in welchem das Wohl jeder einzelnen Person respektiert wird.

P. S.  Angesichts der zahlreichen Rückmeldungen, die ich erhalten habe, und gleichzeitig der Tatsache, dass diese Ausführungen keine Vollständigkeit beanspruchen, ist es wichtig, auch im Lichte der Zitation des hl. Thomas, zu berücksichtigen, dass die Ausdrücke „Gesetz“ und „Recht“ verschiedene Bedeutungen aufweisen (polysemisch): lex/ ius divina/um; lex/ ius humana/um, usw. Das bedeutet, dass selbst das „Prinzip der Legalität“ je nach Kontext in unterschiedlichem Sinn verstanden werden kann. Jeder Bürger muss den Gesetzen seines eigenen Landes gehorchen, aber nur insofern diese das Naturrecht (lex naturalis) respektieren. Keine menschliche Autorität kann gegen die lex divina, naturalis, und für den Gläubigen auch die lex divina positiva, verstoßen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29).

Der Verfasser

Pater Bruno Esposito O. P.

Übersetzung: Prof. Helmuth Pree.