Wolfgang Kurek | 09. Mai 2023
Ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt?
Das Recht auf Bildung verwirklichen
In einer Kabinettsklausur in Meseberg im Sommer 2022 bezeichnete die Bundesregierung die Berufsausbildung als wichtigste Ausbildungsform in Deutschland. Deshalb sei es ihr Bestreben – so Bundeskanzler Olaf Scholz – alles dafür zu tun, „dass möglichst viele junge Leute eine solche Bildung ergreifen“. Mit Blick auf die Realität ist dies ein überaus ambitioniertes Ziel. Auch wenn das duale System aus Berufsschule und betrieblicher Qualifikation zweifelsohne Vorzüge hat, steht es derzeit mächtig unter Druck: Nach Regierungsangaben blieb im Jahre 2021 die Zahl der 466.200 neuen Ausbildungsverträge noch immer 9% hinter dem Vor-Coronajahr 2019 zurück. Und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) errechnete, dass derzeit 2,3 Millionen Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren hierzulande keinen Berufsabschluss haben, fast jeder sechste in dieser Altersgruppe. Können wir es uns als Gesellschaft leisten, dass so viele ohne Ausbildung in den Arbeitsmarkt kommen?
Natürlich nicht, denn es geht stets um den Menschen und um das Gemeinwohl, das Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis „als das Wohl aller und eines jeden“ (38) bezeichnet. Arbeit dient daher aus sozialethischer Sicht auch der Selbstverwirklichung des Menschen und bringt sein Dasein als Person zum Ausdruck. Insofern erweisen sich Bildung und berufliche Qualifikation als Schlüssel für ein gelingendes Leben, materielle Sicherheit und gesellschaftliche Teilhabe. Menschen ohne Berufsabschluss, die häufig unfreiwillig arbeitslos oder im Niedriglohnbereich tätig sind, können diese Chance nicht ergreifen. Dabei sei auch auf die soziale Dimension der Arbeit verwiesen, die nach Auffassung der katholischen Soziallehre Quelle des gesellschaftlichen Wohlstands ist. Dass es sich hierbei nicht um leere Worthülsen handelt, spüren wir am Fachkräftemangel, der nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, sondern vielerorts auch die Lebensqualität beeinträchtigt. Auch aus dieser Perspektive liegt es nahe, das vorhandene Arbeitskräftepotential zu nutzen und durch berufliche Qualifikation gegenzusteuern.
Was also ist zu tun? Es wäre zu billig, die 2,3 Millionen Unqualifizierten als Faulenzer abzutun, die man nur hart genug an die Kandare nehmen müsse. Auch der gut gemeinte Rat, hier Überzeugungsarbeit zu leisten, hilft nicht viel weiter, wenn man bedenkt, dass nach den Zahlen des IAB 64% der Ungelernten keinen Schulabschluss haben. Diesen Menschen fehlen schulische Erfolgserlebnisse, sie sind das Lernen kaum gewohnt und dürften verbal schwer motivierbar sein. Somit kommt es darauf an, sie zu befähigen, Bildungserfahrung als etwas Gewinnbringendes wahrzunehmen. Vor allem aber kommt es darauf an, diesen Ansatz auch im schulischen Unterricht zu verfolgen, um angesichts des Zusammenhangs von fehlendem Schul- und Berufsabschluss die Zahl der beruflich Unqualifizierten künftig gering zu halten. Kinder mit individuellen Nachteilen, aus bildungsfernem Elternhaus oder mit schwierigem Sozialverhalten bedürfen einer professionellen Förderung, die über Klassenwiederholungen oder Schulwechsel hinausgeht. Das gleiche Recht auf Bildung, das von der Christlichen Soziallehre gefordert wird, lässt sich bisweilen nur durch eine hohe Sensibilität für das jeweils Notwendige verwirklichen und ist eine echte Herausforderung für unseren Sozialstaat!