Peter Schallenberg und Lars Schäfers | 05. Januar 2021

Soziallehre (nicht nur) für Jugendliche

Möglichkeiten und Grenzen sozialethischer Bildung mit dem DOCAT

Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland ist von der Katholischen Soziallehre mitgeprägt worden. Das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik ab ihrer Gründung 1949 war eine regelrechte Hochphase des Sozialkatholizismus. Auch die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft als ordnungsethische Bändigung des Kapitalismus wurde in Deutschland von katholischer Sozialethik beeinflusst. Katholiken spielten eine entscheidende Rolle in der Architektur des jungen Staates. Viele von ihnen waren in einem damals noch weitgehend intakten katholischen Milieu sozialisiert und engagierten sich bereits in ihrer Jugend in kirchlichen, Jugend- und Sozialverbänden. Ihre katholische sozialethische Orientierung haben sie dann auch in ihr späteres Engagement in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eingebracht. Das katholische Milieu existiert in Deutschland jedoch so nicht mehr, und die zahlreichen katholischen Verbände, wie auch die Katholische Soziallehre, haben erheblich an gesellschaftlicher Bedeutung verloren.

Vor dem Hintergrund ihrer historischen Wirksamkeit, aber auch wegen der Orientierungen, die sie für die komplexen gesellschaftlichen Fragen von heute bietet, plädiert dieser Beitrag dafür, dass die christlich-sozialethische Bildung auf der Grundlage der Soziallehre der Kirche einen festen Platz in der Jugendpastoral und Katechese braucht. Das ist notwendig, denn trotz ihrer Einflüsse auf die bundesdeutsche Sozialpolitik gilt die Soziallehre gemessen an ihrer Bekanntheit immer mehr als das bestgehütete Geheimnis der Kirche. Und gerade die jungen Menschen sind es, die Verantwortung dafür tragen werden, dass die deutsche Gesellschaft der Zukunft auf der Grundlage ethischer Werte gestaltet wird. Soziale, ökonomische und politische Bildung auf der Grundlage der Katholischen Soziallehre, die zugleich die Lebenswirklichkeiten und Denkweisen junger Menschen berücksichtigt, sollte deshalb integraler Bestandteil von Jugendpastoral und Jugendkatechese sein. Dies gilt auch und gerade in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft wie in Deutschland, in der das Christentum und die Kirche Veränderungs- und Schrumpfungsprozessen unterworfen sind und zunehmend – auch aus eigenem Verschulden – an Bedeutung und Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft verlieren.

„Soziallehre auf zwei Beinen“ werden

„Mein Vorgänger, Papst Benedikt XVI., hat Euch einen Jugendkatechismus, den YOUCAT, in die Hände gegeben. Ich möchte Euch heute ein weiteres Buch übergeben, den DOCAT, der die Soziallehre der Kirche enthält. In dem Titel steckt das englische Wort ,to do‘, tun. Der DOCAT antwortet auf die Frage ,Was tun?‘ – und er ist so etwas wie eine Gebrauchsanweisung, die uns hilft, mit dem Evangelium erst einmal uns selbst, dann unser nächstes Umfeld und am Ende die ganze Welt zu verändern.“ Mit diesen Sätzen beginnt das Vorwort von Papst Franziskus zu dem beim Weltjugendtag Ende Juli 2016 international vorgestellten Sozialkatechismus DOCAT, der eine verständliche und jugendgerechte Darstellung der Katholischen Soziallehre im Stil des Jugendkatechismus YOUCAT bietet. Der Papst ist überzeugt, dass die Soziallehre der Kirche vielen Menschen weltweit helfen kann. Insbesondere setzt er seine Hoffnung auf die Jugend: „Ich wünsche mir eine Million junger Christen, am besten eine ganze Generation, die für ihre Zeitgenossen ‚Soziallehre auf zwei Beinen‘ sind.“ Das ist ein hehres Ziel. Ein wichtiger Schritt war dabei, dass die Entwicklung des DOCAT auch durch die aktive Beteiligung derer geprägt wurde, die die Adressaten sind: Jugendliche und junge Erwachsene. Junge Katholikinnen und Katholiken haben in einem Workshop über den Textentwurf diskutiert, ihre Fragen und Anregungen eingebracht oder durch Fotos zur optischen Gestaltung des Buches beigetragen. Der Katechismus wurde nicht einfach am Schreibtisch der Theologen gemacht, sondern die Zielgruppe selbst war maßgeblich an seiner Entstehung beteiligt.

Auf 320 Seiten in 12 Kapiteln mit insgesamt 328 Fragen und Antworten und zahlreichen Abbildungen ist der DOCAT ein didaktisches Instrument, das grundlegende Orientierung für die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen von heute anbietet. Bischofskonferenzen, Pfarreien und kirchliche (Jugend-)Gruppen in aller Welt führen Veranstaltungen durch, um auf das Projekt aufmerksam zu machen und die katholische Jugend mit der Soziallehre ihrer Kirche vertraut zu machen. In Deutschland erregte der DOCAT auch die Aufmerksamkeit der Politik: Die damalige Bundessozialministerin Andrea Nahles lobte das Buch als „wichtige Orientierungshilfe“, als sie 2016 die deutsche Ausgabe vorstellte. Inzwischen wurde der DOCAT in viele Sprachen übersetzt und ist damit endgültig zu einem globalen Projekt geworden, zu einem weltkirchlichen Kompendium der Soziallehre der Kirche, vor allem – aber nicht nur – für Jugendliche.

Die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle (KSZ) hat die Erstellung dieses einzigartigen Mediums zur Vermittlung der kirchlichen Soziallehre maßgeblich mitgestaltet. Für die Arbeit der KSZ ist der DOCAT ein vielfältig einsetzbares Werkzeug, nicht zuletzt in der internationalen Projektzusammenarbeit zur christlich-sozialethischen Bildung. Entsprechend positive Erfahrungen in der konkreten Arbeit mit dem DOCAT hat die KSZ bereits in sozialethischen Trainingskursen und Seminaren in Rumänien und Georgien gemacht.

Katechese ist mehr als das Auswendiglernen von Katechismussätzen

Allerdings ist das Medium Katechismus bei vielen Katecheten und Religionspädagogen in Deutschland nicht sehr beliebt – und das nicht zu Unrecht. Aufgrund der prägenden Erfahrungen von Generationen von Katholiken mit einer autoritären Form der Katechese, die vor allem aus dem Auswendiglernen steriler Katechismus-Sätze im Rahmen eines strengen Frontalunterrichts bestand, wurde das Medium Katechismus in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil immer häufiger als religionsdidaktisches Instrument abgelehnt.

Der Schlüssel liegt jedoch nicht in der Abschaffung des Katechismus, sondern in einer erneuerten, personengerechten Form der Katechese, die sich an den modernen religionspädagogischen Prinzipien der Subjektorientierung, Erfahrungsorientierung, Bildungsorientierung und Dialogizität orientiert. Lernmaterial, didaktische Instrumente wie ein Katechismus, sind darum letztlich nur einer von mehreren Faktoren für gelingende Lehr- und Lernprozesse. Darüber hinaus ist die Methodik wichtig und auch die Persönlichkeit der Katecheten sollte nicht unterschätzt werden. Auch die Sozialkatechese muss immer als ein ganzheitlicher Prozess und ein Beziehungsgeschehen zwischen Personen betrachtet und gestaltet werden, wenn sie Früchte tragen soll. Ein Katechismus wie der DOCAT sollte daher nicht überschätzt werden. Er steht als didaktisches Hilfsmittel aber dafür, dass die inhaltliche Dimension der sozialethischen Bildung unverzichtbar bleibt. Darum soll er zuverlässig eine Gesamtschau der Soziallehre der Kirche in einer verständlichen Sprache vermitteln, ohne Vereinfachung und damit in einer didaktisch sinnvollen und für junge Menschen erschließbaren Form.

Die Verbindung von Gerechtigkeit und Liebe als Proprium der Soziallehre vermitteln

Nach der Grundüberzeugung der Katholischen Soziallehre haben alle sozialen Systeme dieser Welt einen letzten Zweck: den Menschen als Selbstzweck, als Ebenbild Gottes mit einer unsterblichen Seele, auf Gott und seine ewige Liebe vorzubereiten. „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche“, fasst Papst Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“ diesen Grundansatz zusammen. In diesem Sinne schreibt das christliche Denken dem Begriff der Gerechtigkeit, der in sozialethischen Überlegungen als soziale Gerechtigkeit meist ein zentraler Begriff ist, einen weiten Bedeutungshorizont zu. Diese Verbindung von Gerechtigkeit und Liebe als Proprium der kirchlichen Soziallehre kann gerade für junge Menschen ein ansprechender Ansatz sein, der zeigt, dass die Gestaltung von Gesellschaft und Politik keineswegs nur spröde technische Fragen bleiben dürfen. Dass auch der politische Einsatz für Gerechtigkeit in einer Gesellschaft von Liebe geprägt sein kann und soll, darauf hat zuletzt Papst Franziskus in seiner Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ hingewiesen. Inhalt, Form und Handlung sollten in der christlich-sozialethischen Bildung deshalb miteinander harmonieren. Ganzheitliche Sozialkatechese ermutigt dazu, soziale und politische Liebe zu üben, sich in und für die Gesellschaft zu engagieren.

Gerade ein jugendlicher Idealismus und der unbefangene Mut junger Menschen, Missstände anzuprangern, sind ein guter Nährboden für solches Engagement. Die Bereitschaft junger Menschen, sich für soziale und ökologische Belange einzusetzen, ist enorm hoch, wie zum Beispiel die eindrucksvolle Beteiligung zahlreicher Jugendlicher an der jährlichen 72-Stunden-Aktion, der groß angelegten Multiprojektarbeit des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), ebenso zeigt wie das Engagement junger Katholiken in der Fridays-for-Future-Bewegung als „Christians for Future“. Dieser Trend zur Bereitschaft junger Menschen, sich in sozialen projektbezogenen Aktivitäten zu engagieren, zeigt, dass eine moderne Jugendpastoral und -katechese, die auf die soziale und politische Sensibilität und das Engagement junger Menschen setzt, vielversprechend sein kann. So kann sozialethische Jugendbildung mithilfe des DOCAT womöglich einen neuen Beitrag leisten, den Glauben mit seiner sozialen Dimension zu vermitteln und zu verhindern, dass die Katholische Soziallehre für die katholische Jugend in Deutschland immer mehr zum bestgehüteten Geheimnis ihrer Kirche wird.

Dieser zusammenfassende Beitrag basiert auf dem englischsprachigen Zeitschriftenartikel, den die Autoren jüngst in der indischen theologischen Zeitschrift „Encounter. A Journal of Interdisciplinary Reflections of Faith and Life“ veröffentlicht haben (PDF-Download).

Die Verfasser

Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn, Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Konsultor am Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen in Rom.



Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Bonner Katholisch-Theologischen Fakultät.