Gabriel Rolfes | 29. April 2020
Soziallehre und Politik
Perspektiven nach dem Tode Norbert Blüms
Er machte kein Geheimnis daraus: Den Antrieb seiner Politik fand Norbert Blüm im Glauben. Als einer der bekannten Protagonisten der katholischen Arbeitnehmerbewegung in der Bonner Republik führte er als Sozialminister der Ära Kohl die Pflegeversicherung ein, verteidigte berühmt-berüchtigt die Rente und galt als soziales Gewissen der CDU. Für viele seiner Zeitgenossen war er als „Herz-Jesu-Sozialist“ die Person gewordene katholische Soziallehre. Nun ist der „linke Konservative“ mit 84 Jahren gestorben. Nach seinem Tod fehlt nicht nur ein engagierter Streiter für mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch ein beliebter Werbebotschafter für die Orientierung der Politik an den Prinzipien der kirchlichen Sozialverkündigung. Deren Programm muss aber weiter im Gespräch bleiben.
Mit Thomas und dem „heiligen Nell“ gegen den Kapitalismus
Geboren in Rüsselsheim im Rheingau, trat Norbert Blüm als Sozialpolitiker für den rheinischen Kapitalismus ein. Zur Politik sei er ohnehin gekommen, und hier deutet sich seine katholische Erziehung bereits sprachbildlich an, „wie die Jungfrau zum Kinde“. Als Messdiner und Pfadfinder kirchlich geprägt, lernte er Werkzeugmacher bei Opel. Später Abitur, Studium und Promotion unter anderem bei dem Fundamentaltheologen Joseph Ratzinger. Bereits früh der Eintritt sowohl in die IG Metall als auch die CDU. Erste politische Gehversuche machte er als Jugendvertreter im Betrieb, darunter auch erste Grenzerfahrungen mit Sozialdemokraten und Kommunisten. In der Unionspartei der Sozialen Marktwirtschaft und in ihren Sozialausschüssen war er zu Hause. Er verstand sie als Partei der Mitte, die zwischen den großen Ideologien steht und sich aufgrund der eschatologischen Erfahrung des Christentums von politischem Fanatismus fernhält.
Auch er selbst saß als Gewerkschafter und Katholik zwischen den Stühlen, wodurch sein politisches Leben keinesfalls konfliktfrei blieb. Zeitlebens hielt er an der Hoffnung fest, dass die moralische Verpflichtung des „C“ für die Politik seiner Partei einen ethischen Vorsprung vor der Sozialdemokratie bedeutete. „Christlich“ hieß für Blüm nämlich immer auch christliche Gesellschaftslehre, aus der er seine sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen (und die Stichworte seines Bundesministeriums für „Arbeit und Sozialordnung“) entnahm. Leidenschaftlich argumentierte er mit Thomas und dem „heiligen Nell“ gegen die Verwerfungen des Kapitalismus. Beide las er als Kritiker ungerechter Eigentumsverteilung, die katholische Soziallehre verstand er als im Kern antikapitalistisch.
Praktisch schätzte Blüm die katholische Soziallehre als einnordende Orientierungshilfe in der Politik. Er lobte ihre Kompassfunktion, die gleichzeitig Möglichkeit zur Flexibilität und zum Pragmatismus bot. Als er in einem Interview provokant gefragt wurde, ob die Soziallehre überhaupt Antworten auf Gegenwartsfragen geben könne und sie nicht ohnehin zu wenig konkret formuliert sei, antwortete Blüm selbstbewusst: Die Soziallehre sei kein politisches Rezeptbuch, man müsse schon das eigene Hirn benutzen. In programmatischen Beiträgen seiner Partei warb er für die Anlehnung an die Kirche, für Leitfiguren wie Nell-Breuning statt Leitkultur-Debatten. In den Sozialprinzipien der Subsidiarität, der Personalität und der Solidarität fand Blüm die Richtlinien seiner Politik, als deren Ziel er das Gemeinwohl sah. Er argumentierte, die Soziallehre habe gerade darin einen überzeugenden Kompromiss vorlegen können, dass sie Eigentumsrechte nicht verwirft, sondern sie zum Einsatz für individuellen und gesamtgesellschaftlichen Nutzen verpflichtet.
Für christliche Solidarität in Flüchtlingspolitik und moderner Arbeitswelt
Auch Jahrzehnte nach dem Ausscheiden aus der Parteipolitik blieb Norbert Blüm in der Öffentlichkeit präsent, bis ihm dies aufgrund seiner Erkrankung zuletzt unmöglich wurde. Aber solange er konnte, blieb er unbequem: Während seine Partei in ihrer Flüchtlingspolitik gleichgültige Töne anschlug und sich wenig christlich verhaltend die menschenunwürdigen Zustände im griechischen Camp Idomeni weitgehend ignorierte, zeltete Blüm dort medienwirksam – und begründete dies mit der Notwendigkeit christlicher Solidarität. Als Publizist, als Lehrender an der Universität Bonn und als Hemmerle-Professor in Aachen behandelte er seine Herzensthemen: Soziallehre und die ethische Dimension der Arbeit.
Mit dem Tode Norbert Blüms ist nun eine wichtige Stimme verstummt, die sich der Ansprache dieser Problemstellungen in die breite Öffentlichkeit und in unterschiedliche Milieus hinein angenommen hatte. Fehlen wird eine Stimme, die lebhaft und aus eigenem Glaubensleben heraus authentisch aufzeigen konnte, welche Rolle die Orientierung an der katholischen Soziallehre für die Sozial- und Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland noch stärker spielen sollte. Gleichsam wird nicht zuletzt in der fortdauernden Herausforderung der Flüchtlingsfrage und aktuell in der Corona-Krise deutlich, welche Bedeutung diesen von Blüm behandelten Fragestellungen weiterhin zukommt.
In der gegenwärtigen Ausnahmesituation wird nämlich konzentrierter als zuvor erkennbar, welche zentrale soziale Dimension Arbeit neben allen Debatten um Lohn-, Kurz- und Heimarbeit hat. Ferner werden politische Fehlplanungen offenbar. Etwa, Gesundheitssystem und Hochschulen entlang ökonomischer Leistungsmerkmale zu organisieren; die gesellschaftliche Bedeutung des Kulturbetriebes und von Erziehungseinrichtungen nicht nach sozialen Notwendigkeiten zu bewerten, sondern nach einer wirtschaftlichen Nützlichkeitsprüfung als „relevant“ oder „irrelevant“ zu verstehen. Insgesamt wird es während und nach der Krise darum gehen, die Lasten der erhöhten finanziellen Aufwendungen der Corona-Politik gerecht und sozial verträglich zu bewältigen. Auch hier ist es ratsam, sich derjenigen Ideen der katholischen Soziallehre zu erinnern, die schon Norbert Blüm in Orientierung und Pragmatismus konsultiert hatte. Denn letztendlich geht es um Solidarität.