Peter Schallenberg | 08. Januar 2020

Was trägt die Demokratie?

Gibt es in unserer Demokratie Grundwerte, vielleicht sogar so etwas wie eine Leitkultur? Was sind die unaufgebbaren Grundlagen unserer demokratischen Rechtsordnung? Solche Fragen gehören zum politischen Alltag und sind immer wieder zu stellen. Die Demokratie ist immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und einem Lackmustest zu unterziehen, um ihre innere Tauglichkeit als unbestechliche Hüterin der unveräußerlichen Menschenrechte zu erweisen. Und zuweilen bedarf es auch der Proteste, um verschleierte oder ganz verborgene Ungerechtigkeiten einer Demokratie anzuprangern und in der öffentlichen Debatte zur Sprache zu bringen, damit aus einer kleinen Unwucht nicht ein größeres Unrecht entsteht. Aktuell ist etwa die Diskussion um eine Grundsicherung für Kinder dafür ein gutes Beispiel. Denn Augenmerk ist verlangt insbesondere dann, wenn schwächere Mitglieder unserer Gesellschaft dauerhaft benachteiligt oder gar übersehen werden. Auch die notwendigen Auseinandersetzungen um die Abtreibung und ein diesbezügliches Werbeverbot, um die Organtransplantation und um die assistierte Sterbehilfe sind dafür gute Beispiele. Hinter all diesen Diskussionen um Grundfragen des Zusammenlebens erhebt sich unmerklich und drängend die Frage: Was ist eigentlich die Demokratie genau und auf welchen Werten baut sie auf?

Von einem unbekannten Denker stammt der schöne Satz: „Demokratie ist der Zustand, in dem jeder jedem eine Frage stellen darf!“ Eleganter und kürzer geht es wohl nicht: Demokratie ist zunächst eine Form, über den Inhalt ist damit noch nichts gesagt. Die Blumenvase, die Kuchenform, die Obstschale, der Trinkbecher: alles sind Formen, geeignet, um verschiedene Inhalte, gute und schlechte, Weißwein oder Schierlingsgift aufzunehmen. Andererseits ist die Form in jedem Fall ein verheißungsvoller und guter Beginn; Gewaltenteilung oder Wahlrecht ist dafür ein gutes Beispiel. Die Form ist nicht alles, aber ohne die Form ist alles nichts!

Demokratie ist solch eine Form, wie der Trinkbecher eben: Ob Wasser oder Wein oder Gift darin enthalten ist, muß entschieden werden. Freilich stellt sich eine Demokratie normalerweise unter eine feststehende Rechtsordnung, Verfassung oder Grundgesetz genannt, in der die demokratische Form einen ersten inhaltlichen Kern und eine bestimmte Qualität erhält. Wir nennen dies die Grundrechte als Menschenrechte; in unserem Grundgesetz mit der so genannten Ewigkeitsgarantie versehen; niemand in alle Ewigkeit kann sie abschaffen oder aufheben. Ob die Demokratie dann das Lebensrecht eines jeden Menschen in gleicher und gerechter Weise fördert und achtet, muß sich erweisen. Die pure Form der Demokratie mit gleicher und gerechter Ausübung von Stimmrecht und Wahlrecht sagt darüber noch nichts. Oder anders gesagt: Die Form der Demokratie ist ein allererster Grundwert gleicher und gerechter Mitsprachemöglichkeit. Die Grundwerte des Lebens und der Freiheit, der Solidarität und der Mitbestimmung müssen dem sogleich auf dem Fuße folgen. Und noch etwas leuchtet an dieser Stelle auf: Mehrheiten sind keineswegs aus sich heraus schon Garanten für Wahrheit und Recht. Sie können manipuliert werden und sie können auch irren. Wenn nämlich alles im Staat gleich gültig ist, was wechselnde Mehrheiten beschließen, dann ist am Ende alles buchstäblich gleichgültig und nur noch von relativen Mehrheiten abhängig. Wir nennen das Populismus: Mehrheit ohne Grundwerte. Aus diesem Grunde gibt es beispielsweise in der deutschen Demokratie das Bundesverfassungsgericht, das grundsätzlich alle Gesetze unter den Vorbehalt des Grundgesetzes stellt und urteilt, ob dessen Grundwerte nicht verletzt werden. Aber weit darüber hinaus braucht es in jeder Demokratie nicht bloß alle vier oder fünf Jahre die Stimmabgabe, sondern es braucht jeden Tag und jede Woche die mündige Bürgerin, die Verstand und Stimme erhebt, wenn der politische Inhalt der Demokratie mehr einem schleichenden Gift als einem bekömmlichen Wein zu gleichen beginnt.

In einer globalisierten Welt verstehen wir nicht mehr nur einzelne Staaten, sondern die ganze Welt vom Anspruch her als Demokratie, auch wenn nach wie vor viele Länder durchaus nicht als lupenreine Demokratien erscheinen, auch wenn sie sich gern so darstellen. Jeder Mensch ist Weltbürger und hat das Recht in jedem Winkel dieser Welt auf gleiche und gerechte Achtung seiner Würde und seiner Grundrechte und auf Entfaltung seiner Persönlichkeit. Menschenwürde ist nämlich nicht teilbar und nicht abhängig von Kulturen. Und jede menschliche Person, ungeachtet ihrer moralischen Qualität, hat auf dieser Welt im Mittelpunkt der Demokratie zu stehen. Anfangen tut dies im kleinen Bereich von Familie und Nachbarschaft und setzt sich fort in der großen Weltpolitik: Der Mensch steht im Mittelpunkt!

Der Verfasser

Msgr. Prof. Dr. Peter Schallenberg ist Professor für Moraltheologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.