Marco Bonacker | 26. Februar 2020
Zwischen Impfpflicht und Impfverweigerung
Ethische Perspektiven auf eine medizinische Kontroverse
Der Ausbruch des Covid-2019 hält die Weltgesellschaft weiterhin in Atem. Täglich werden neue Fallzahlen bekanntgegeben, tausende Menschen sind, vor allem in China, in strengster Quarantäne. Die Zahl der Verstorbenen muss täglich nach oben korrigiert werden. Die Bilder von den Straßen Wuhans gleichen denen einer Geisterstadt. Weiterhin besteht die Gefahr, dass sich das Virus zur Pandemie ausweitet – immer mehr Länder geben erste Fälle bekannt. Auch in Europa weiten sich die Fallzahlen rasend schnell aus. Dass Viren von Tieren auf den Menschen überspringen ist selten, aber möglich und dann meist besonders aggressiv – zuletzt war das Ebola-Virus eine solcher Fall. Meist blieben solche Vorkommnisse lokale Ereignisse. In Zeiten der Globalisierung, dem hochfrequenten Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie einer noch nie dagewesenen Mobilität von Menschen über alle Grenzen hinweg, bedeutet das auch für neu auftretende Infektionskrankheiten eine größere Chance auf Verbreitung. Schon jetzt ist das Virus eine globale Herausforderung. Je besser ein Land und das jeweilige Gesundheitssystem auf eine solche Epidemie vorbereitet ist, desto eher kann eine weitere Ausbreitung verhindert werden.
Das Corona-Virus macht daher einerseits auf bedrängende Weise deutlich, wie fragil und vernetzt die Weltgesellschaft heute ist, andererseits führt es gerade Gesellschaften wie der deutschen vor Augen, dass der Schutz der Gesundheit nicht nur eine Frage des persönlichen Lebensstils ist, sondern eine politische Ordnungsfrage, in der individuelle Rechte mit den Rechten des Gemeinwohls kollidieren können. Aus Sicht der politischen Ordnung und des zu gewährleistenden Gemeinwohls ist es etwa legitim, einen einzelnen Betroffenen einer Infektionskrankheit oder auch nur einen Verdachtsfalls in Quarantäne zu zwingen, um die Mehrheitsgesellschaft vor weiteren Ansteckungen zu schützen. Und ein ähnlicher Fall liegt in der aktuellen Abwägung vor, ob man Menschen gesetzlich dazu verpflichten sollte, bestimmte Impfungen zu durchlaufen, bevor sie etwa im Gesundheitssektor, in einer Flüchtlingsunterkunft oder einem Kindergarten arbeiten dürfen.
Die Debatte um die Impfpflicht steht in diesem Kontext und wurde in den letzten Monaten teilweise emotional geführt und in jedem Fall kontrovers. Denn gerade in urbanen und gebildeten Milieus sind es vor allem junge Eltern, die impfmüde geworden sind und Impfschäden bei ihren Kindern nicht in Kauf nehmen wollen. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Sicher spielt eine Rolle, dass die jetzige Elterngeneration ihren Schrecken vor den Krankheiten wie Kinderlähmung, Masern oder Diphterie verloren hat, ganz einfach, weil sie in Deutschland kaum mehr vorkommen – und zwar durch erfolgreiche und flächendeckende Impfprogramme. Eigene Anschauung und Erfahrung kann durch moralische Appelle am Ende nie ersetzt werden. Obwohl die meisten dieser Krankheiten in Deutschland als nahezu ausgerottet gelten, ist auch eine moderne, offene und globalisierte Gesellschaft nicht gegen Neuinfektionen gefeit. Doch die hohe Effektivität der Impfpraxis im Kampf gegen Krankheiten führt dazu, dass die bleibenden Krankheitsrisiken allgemein unterschätzt werden – eigentlich paradox: Impfungen sind so erfolgreich, dass immer mehr Menschen glauben, dass sie nicht mehr nötig sind.
Hinzu kommt ein individualisiertes Lebensverständnis, dass vielleicht noch das eigene Kind im Blick hat, die Gefahren für andere durch das eigene Handeln jedoch vielfach unterbewertet oder gänzlich ausschließt. Impfungen wirken als individuelle Immunisierung, aber nur wenn das Kollektiv ausreichenden Impfschutz besitzt, sind am Ende auch jene geschützt, die nicht geimpft werden können – Trittbrettfahrer, die darauf vertrauen, dass die Mehrzahl der anderen sich impfen lässt, profitieren allerdings für kurze Zeit, bevor es ihnen zu viele Menschen nachmachen.
Gerade nicht geimpfte Kinder bzw. deren verantwortliche Eltern gefährden auch andere, weil der Herdenschutz abnimmt.
Schließlich darf man auf eine generell ansteigende Skepsis hinsichtlich schulmedizinischer Verfahren verweisen, die flankiert wird von einer eher ökonomischen Kritik gegenüber Pharmaunternehmen. Die auf der anderen Seite in diesem Milieu ausgedehnte Nutzung von Homöopathika, die außer dem Placeboeffekt keinerlei wissenschaftlich nachgewiesene Ergebnisse zeitigt, stellt die Kritik an der Schulmedizin auf implizite und praktische Weise vor Augen.
Der ethische Diskurs im Zusammenhang mit diesem Fragenkomplex verläuft grundsätzlich – wie angedeutet – zwischen den sozialethischen Koordinaten von Personalität (in diesem Fall in Form der körperlichen Unversehrtheit) und Gemeinwohl (hier konkret als Gewähr der flächendeckenden Immunisierung gegen bestimmte Erreger). Aber auch die Frage der Solidarität ist angesprochen, wenn man bedenkt, dass man durch eine eigene Impfung auch jene indirekt schützt, die selbst nicht geimpft werden können. Wägt man die unterschiedlichen Werte nüchtern ab, wird man nicht umhinkommen, die aktuelle Entscheidung zur Impfpflicht, die ab dem 1. März gilt, gutzuheißen. Zwar ist der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eine hohe Hürde. Doch gemessen an der Gefahr, die von einer größer werdenden Gruppe von Nicht-Geimpften ausgeht, ist die Entscheidung nachvollziehbar und sogar ethisch geboten.